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Wie ein Frosch unter der Glasglocke

Eine dreißigjährige Frau im Morgenrock lauscht am Heilig Abend einer knarzenden Schallplatte, auf der die Weihnachtsgeschichte vorgetragen wird. Ihre Aufmachung, ihr unsteter Blick und ihre verkrampften Hände verraten ihre wenig weihnachtliche Stimmung. Als erfolgreiche Informatikerin hat sie zwar gelernt ihren Alltag den Regeln entsprechend zu organisieren und hart und zielgerichtet an ihrer Karriere zu arbeiten, weiß aber nicht was sie mit der leider immer noch übrig bleibenden Zeit anfangen soll. Den Grund für diese Leere in ihrem Privatleben macht sie daran fest, dass sie ihrer Meinung nach nicht ganz den gängigen Schönheitsidealen entspricht. So schätzt sie ihre Chancen auf dem Beziehungsmarkt als äußerst gering ein. Unsicher, verschämt und tollpatschig stürzt sie sich in verzweifelten Anläufen trotzdem immer wieder auf das vorbeilaufende männliche Angebot, das uninteressiert bis abgeschreckt zurück weicht. Nichts anderes hat sie erwartet. Ihr Leben weist eine so absolute Leere und fortgesetzte Langeweile auf, dass sie die Hoffnung auf ein plötzliche Wendung als einen weiteren großen Irrtum erkannt hat. Also dem Leben ein Ende machen? Eher kommt es ihr unwahrscheinlich vor, dass jemand, der so wenig gelebt hat, überhaupt sterben könnte.

Regisseur Johan Simons und die Schauspielerin Yvon Jansen haben aus der männlichen Vorlage von Michel Houellebecq "Ausweitung der Kampfzone" einen weiblichen Monolog extrahiert. Sie zeigen eine sexuell frustrierte Karrierefrau, die ihre neurotische Unsicherheit, Scham und Angst hinter krampfhaften Kichern, hektischem Rauchen und stragetisch-spontanem Vorstößen in die Männerwelt unzureichend verbirgt und ihr Leben ohne Sinn dahinrauschen sieht.

Durch die Übertragung des männlichen Textes auf eine Frau werden die viel diskutierten Gedanken des belgischen Autors um neue interessante Aspekte bereichert. Während die Hauptperson in Houellebecqs Ursprungstext den männlichen Rollenanforderungen des Eroberers nicht genügte, disqualifizieren dieselben Aktionen die Frau für die Erfüllung der Erwartungen an die weibliche Rolle. Ihre ungeschickten Angebote an die Männer werden ihr als unangenehme Anbiederung ausgelegt. Sie landet somit in einer typisch weiblichen Opferhaltung, die ihre erduldende Hilflosigkeit noch steigert. Ihr nicht vorhandenes Selbstbewusstsein führt sie in einen Teufelskreis aus mangelnden Resonanz in einer Gesellschaft, die durch Maßstäbe von Attraktivität, Jugendlichkeit, Sportlichkeit und Frische geprägt ist, und selbstdestruktiver Kritik, die wiederum ihre Anziehungskraft noch weiter sinken lässt.

Jansen berührt in ihrem knapp einstündigen Monolog, der als Gastspiel des Schauspielhauses Zürich im Thalia in der Gaußstraße zu sehen war, durch ihr eindringliches Spiel. Ihre aufgesetzte Fröhlichkeit verrät noch während des Lachens die hervorbrechende hoffnungslose Verzweiflung. Jede fahrige Bewegung spricht von ihrer abgrundtiefen Leiden an sich und ihrer Umwelt. All ihre geistigen Fähigkeiten scheinen ihr wertlos im Gegensatz zu ihrer vermeintlich mangelnden sexuellen Attraktivität. Jansen zeigt, dass dies keineswegs mit tatsächlicher Hässlichkeit gekoppelt sein muss. Die Anziehungskraft eines Menschen speist sich aus seiner Lebendigkeit; und diese Frau ist in ihrer grenzenlosen Einsamkeit so gefangen, dass sie wie tot erscheint. Das Publikum honorierte die differenzierte schauspielerische Leistung von Yvon Jansen mit anhaltendem Applaus.

Birgit Schmalmack vom 15.06.03