Kaltstart 2007


www.hamburgtheater.de

Der Sonntag

Nach der Eigenproduktion des Kulturhauses 73 "Fake for real" folgte die vielschichtige Performance von busy-beaver "Springen im Sechseck". Lulu, Scheudi und Fell experimentieren im Verwirren der Sinne ihres Publikums, so dass die Suche nach den möglichen Antworten wünscheswert wird, obwohl keinerlei Fragen formuliert werden. Sie benutzen dazu Musik, Bild und Sprache. Xylophon, Keyboard und Schlagzeug untermalen die intellektuelle Gratwanderung. Die projizierten Videobilder tragen zusätzlich dazu bei, dass jeder etwas anderes wahrnimmt und damit einen behaupteten Satz von Lulu bestätigt: Die Weisheit ist nur eine Wahrheit.

Eine weitere Inszenierung des spannenden Schauspiels "Das wundervolle Zwischending" zeigte das "Ballhaus Ost" aus Berlin. Regisseurin Luise Helle verfolgte einen anderen Ansatz als die Aachener Aufführung. Sie beließ Heckmanns Text im Abstrakten und spielte eher mit den Bildern im Kopf der Zuschauer als konkret ausgespielte dagegen zu setzen. Nur eine Videosequenz von einem glücklichen Moment des in die Jahre gekommenen Liebes- und Künstlerpaares Johann und Anna unterstütze deren Vorstellungskraft. Die starken Schauspieler Lisa Maria Potthoff, Sascha Göpel und Stefan Rudolph ließen auch diese Interpretation zu einem vollen Erfolg werden.

Um Mitternacht begann die letzte Aufführung des Festivals "Populärmusik aus Vittula". In geschätzten 38 Grad im Saal spielte Holger Bülow unter der Regie von Julia Hölscher den Matti aus dem tiefen, verschneiten Norden. Angetan mit Steppmantel, Mütze und Felljacke erzählte er von den wundersamen Erschütterungen, die ein Junge aus Tornedal nahe der finnischen Grenze überwinden muss, bis er endlich erwachsen ist. Doch zusammen mit seinem schweigsamen Freund Niila übersteht er die harten Kampfesrituale der männlichen Tornedaler. Oberwasser gewinnen die beiden jedoch erst, als sie die Rockmusik entdecken und mit ihrer Band sogar einige Mädchen zu Interessensbekundungen bewegen können. Wenn Matti zum Schluss halb ohnmächtig zum Saunakönig wird, braucht Holger Bülow nur noch wenig zu schauspielern: Der Schweiß läuft nach seinem eineinhalbstündigen Parforce-Ritt von ganz alleine. Zum Dank dafür kürte ihn anschließend das Publikum mit jubelndem Applaus zum krönenden Abschluss eines weiteren wunderbaren Festivals "Kaltstart".

Birgit Schmalmack vom 17.7.07

Der Freitag

Aus den beiden Produktionen des "Werkraum 3" ragt das "Nachtlied" heraus. Mit viel Witz, Ironie und Ideereichtum inszenierte Christopher Rüping mit seinen überaus beweglichen, sangesfreudigen und ausdrucksstarken Darstellern Rüdiger Hauffe und Wiebke Mollenhauer das kleine Nachtmusical, das am Keyboard live begleitet wurde.

Die beiden folgenden Schauspielstücke bewegten das Publikum ebenso zum begeisterten Applaus. Im Gastspiel aus Aachen "Das wundervolle Zwischending" analysierte Regisseurin Anna Schildt die Verstrickungen der menschlichen Liebe. Nagelbett oder Kuschelkissen - wie sollte die Partnerschaft Liebe beschaffen sein. Abenteuer, Leidenschaft oder Sicherheit, das ist für Johann und Anna die alles entscheidende Frage. Beide Künstler und Sozialhilfeempfänger aus Berufung, spiegeln sich und ihre Beziehung in ihrem Filmprojekt, das zu einer Forschungsreise in Sachen Erotik, Langeweile, Alltäglichkeit, Abnutzungserscheinungen und deren Vermeidung gerät. Matthias Heckmanns intelligenter und witziger Text ist die ideale Spielvorlage für die beiden Hauptdarsteller Samuel Zumbühl und Anne Wuchold. Sie verkörpern die beiden verwöhnten Großstadtegomanen mit viel gekonnter Selbstironie.

Eine Produktion der Hamburger Theaterakademie folgte: "Mit dem Feuer spielen" in der Regie von Alexander Riemenschneider. Auf schachbrettgemusterter Gummimatten wurde die Dreiecksgeschichte zum Wettkampf zwischen Ehemann, Ehefrau und Geliebten. Erkannte der Ehemann den Wert seiner langjährigen Gattin erst durch die Umwerbungen des Freundes, so heizte er gleichzeitig dessen Bemühungen geschickt an, um schließlich genüsslich das fatale Ende des Seitensprungs mit zu verfolgen. Immer wieder stellen sich die drei Darsteller Lisa Arnold, Gunther Eckes, Dominick Lindhorst in Positur und werfen sich geschickt über die Schulter. Kampfeserprobt knallen sie auf die harten Matten um wenig später zur Revanche anzusetzen. So gewann Reimenschneider Strindbergs Text viele vergnügliche Seiten ab.

Birgit Schmalmack vom 16.7.07

Erlebte Gesschichte

Die junge Frau Clara will ihrem todkranken Vater eine Videobotschaft zum seinem 60. Geburtstag schicken, der sein letzter sein könnte. Die Schauspielerin kann nicht bei ihm sein, weil sie gerade mitten in den Dreharbeiten zu ihrem ersten großen Film steckt. Sie hat sich also frisch geschminkt, ein festliches Kleid angezogen, Kuchen und Blumen gekauft und vor ihrer kleinen Kamera aufgestellt. Doch keine ihre Botschaften will ihr gelingen. Entweder ist der Ton zu oberflächlich und unecht oder zu tiefschürfend und kritisch. Immer wieder bricht sie ab.

Dabei böte ihr gerade ihre jetzige Filmarbeit viel Gesprächsstoff mit ihrem Vater. Sie spielt eine Frau, die wie Claras Vater ihren Vater ebenfalls im 2. Weltkrieg auf dem Russlandfeldzug verlor und jetzt auf Spurensuche in die Vergangenheit ist. Wie sich die Aufarbeitung Claras eigener Beziehung zum Vater mit ihrem Filmprojekt in Russland mischt und dabei ein Stück deutsche Geschichte lebendig werden lässt, entwickelt der Monolog der Autorin Polle Wilbert in "Warum mich 1 Happy End traurig macht" auf höchst interessante Weise. Unter der zurückhaltenden Regie von Oliver Bierschenks versteht es Melek Diehl der Figur der Clara in jedem Moment Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Birgit Schmalmack vom 10.7.07

Kaltstart-2006


www.hamburgtheater.de

Der Sprung ins kalte Wasser hat sich gelohnt

Gleich der erste Tag des Festivals "Kaltstart" im neuen Kulturhaus 73 auf der Schanze hatte es in sich. Er lieferte bis weit nach Mitternacht ein volles Programm, das bei den Temperaturen, die dem Namen des Festivals nun so gar nicht entsprachen, Schauspieler und Zuschauer zum Schwitzen brachten. Dennoch waren die Veranstaltungen (Lesungen, Theater, Hörspiele und Konzerte) so gut gesucht, dass immer wieder Bierkästen als zusätzliche Sitzgelegenheiten herangeschafft werden mussten.

Im Schnelldurchlauf sprintete das Schauspielerduo Gisela Aderhold und Moritz Tittel aus Hildesheim durch den "Ring der Nibelungen". Ein Diaprojektor, ein Tisch, zwei Stühle und ein paar Puppen reichen ihnen um das dramatische Geschehen um Kriemhild, Siegried, Hagen und den verschwundenen Schatz auf vergnügliche eineinhalb Stunden einzudampfen. Wer hat Recht? Kriemhild, die behauptet, dass Hagen der heimtückische Mörder ihres Mannes Siegfried und Räuber des Schatzes ist? Oder Hagen, der glaubt, nur als treuer Diener seinen Auftrag ausgeführt zu haben? Nach Herzenslust streiten die Beiden über ihre ganz persönliche Sicht der Geschehnisse und machen das Publikum zum Richter ihrer beider Wahrheiten.

"Glenn Gould" war das Thema des Inszenierung von Gero Vierhoff, das im kleinen Anbau des Kulturhauses seine Premiere hatte. Dieser Musiker, der Künstler verachtete, verschrieb sich mit Haut und Haaren der Musik. "Ein Pianist spielt nicht mit den Händen sondern mit dem Kopf", war stets seine Meinung. Er sezierte die Musik, analysierte und perfektionierte sie. Er hasste Konzerte. Der Kontakt mit dem Publikum war ihm zuwider. Lieber begab er sich ins Tonstudio und feilte solange an den Aufnahmen, bis sie seinen Ansprüchen genügten. Dieser Künstlerpersönlichkeit spürte der Regisseur Vierhoff in seinem Monolog nach. Der schlaksige Schauspieler Nico Delpy kriecht in seine Figur förmlich hinein. Wenn er dann zu knarzenden Originalaufnahmen von Gould über die Bühne springt und ihr mit jeder Phase seines Körpers Ausdruck verleiht, zeigt er ein Stück des sorgsam verborgenen Innenlebens Goulds.

Reines Vergnügen lieferten die drei Pontominenkünstler der Folkwang Schule Essen. In ihren drei Soli erzählen sie amüsante Geschichten. Oda Zuschneid benötigt keine Worte, um ihre Nöte im Großstadtgewimmel zu schildern, die den Zuschauern bekannt vorkamen. Den Zug erreicht man nur mit knapper Not. Der Fahrkartenautomat spuckt nur immer wieder das Geld aber kein Ticket aus. Und der Kontrolleur gönnt einem keine ruhige Minute während der nun folgenden Fahrt. Charles Toulouse gerät als Major in einen lebensbedrohlichen Dialog mit seiner Dienstwaffe, die anscheinend über einen eigenen Willen verfügt. Maximillian Merker stand in der Gunst des Publikums ganz oben, als er seine Anekdote von einem Frisör in Marrakesch erzählt, der in heißer Liebe für seine Angebetete entbrannt und alles riskiert. Er springt dabei so versiert von einer Rolle in die andere, dass er im Alleingang einen ganzen Film inklusive Abspann erzählen kann.

Zwei Stücke wurden im Laufe des Festivals gezeigt, die weit mehr waren als kleine Appetithäppchen. Die erste von ihnen ist schon im Rahmen des "Stapellaufs" auf Kampnagel und des "Finales 06" im Malersaals gezeigt worden: die Umsetzung von "Käthchens von Heilbronn" von Frederike Czeloth. Sie hatte das Glück für ihre fetzige, einfallsreiche Inszenierung einen so herausragenden Schauspieler wie Guido Lambrecht gewinnen zu können. Mit seiner unbedingten Spielwut prägt er die Aufführung. Als Graf Wetter vom Strahl verfällt ihm das junge Käthchen von Heilbronn (Lisa Grosche). Doch der welterfahrene Mann findet ihre völlige Hingabe eher lächerlich. Zunächst treiben ihn seine männlichen Triebe in die Hände der attraktiven und gerissenen Gräfin Kunigunde (Carolin Eichhorst). Doch die Unbeirrbarkeit des gläubigen Käthchens zahlt sich aus: Er erkennt, dass Liebe doch aus mehr als aus der Befriedigung der Lust besteht. Czeloth rückt ihren Figuren auf den Leib und scheut sich nicht, deutliche Bilder zu benutzen. Während der Graf mit Kunigunde flirtet und auf seiner Burg aus einen Stahlgerüsttangen herumspringt, streift er - ganz Mann der Tat - seine Hose ab und lässt unter seinem Oberhemd herumbaumeln, was er der Umworbenen zu bieten hätte. Die stolze Kunigunde muss nach ihrer Niederlage in den auf dem Fußboden verstreuten Holzspänen herumwühlen. Einzig das Käthchen bleibt sauber und unberührt. Ihr stehen sogar leibhaftige Engel zur Seite, um sie vor Unglück und Tod zu beschützen. Auch in den beschränkten räumlichen Möglichkeiten des Haus 73 versprüht diese Inszenierung noch jede Menge Charme und Witz.

Die zweite herausragende Arbeit war am Sonnabend zu sehen: "Die Vaterlosen" nach Tschechow. Eva-Maria Baumeister aus Berlin zeigte eine amüsierlustige, eventgeile Partygesellschaft, die einfach nur Spaß haben will. Bloß um der Langeweile und der Leere zu entgehen, projizieren sie all ihre Wünsche nach Inhalten ausrechnet in die Gestalt des Nihilisten Platanov (Florian Hänsel). Seinen Zynismus halten sie für Intelligenz, die über ihr ödes Dasein hinweg zu weisen scheint. Er sonnt sich gerne in ihrer Anbetung, kann aber ihre Erwartungen ebenso wenig erfüllen wie seine Wünsche an sein eigenes Dasein. Eine kluge Arbeit .

Der Sprung der Festivalmacher ins kalte Wasser hat sich gelohnt. Das Haus auf der Schanze hat sich schon im Rohzustand zu einer interessanten Adresse für innovative, mutige Kulturarbeit empfohlen.

Birgit Schmalmack vom 24.7.06