Zerbrochne Krug


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Dörfliche Chaosforschung

Nicht erst heutige Manager versuchen ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen, wenn sich ihr Unternehmen als sinkendes Schiff herausstellt. Nicht erst bei ihnen ist der Verlust moralischer Werte zu beklagen. Auch bei Menschen, die in einem niederländischen Dörfchen im 18. Jahrhundert für Recht und Ordnung stehen sollten, gab es schon solche Verfallserscheinungen. Dorfrichter Adam ist so einer. Eigentlich soll er an seinem Gerichtstag nur über die Entschädigung für einen zerbrochenen Krug der Witwe Marthe (mit beeindruckender Zornesröte kämpfend: Wiebke Puls) entscheiden. Doch nach einer durchgemachten Nacht mit versuchtem Beischlaf mit Marthes Tochter (mit beredter, mühsam unterdrückter Wut: Jana Scholz) und blutiger Schlägerei mit dem eifersüchtigen Verlobten (Tilbert Strahl-Schäfer) ist Adam jedoch kaum zu Höchstleistungen in der Lage. Zumal sich genau zu diesem Zeitpunkt der Gerichtsrat (mit gekonnter beiläufiger Autorität: Joachim Meyerhoff) ankündigt und Adam selbst sich als Schuldiger in dem zu verhandelnden Fall herausstellt. Durch blutverschmierten Kopf, Hinkefuß und Übermüdung beeinträchtigt heißt es jetzt den Kopf mit List, Lüge und Täuschung aus der Schlinge zu ziehen. Und dieser Adam ist ein ganz durchtriebener Bursche. Blitzschnell wechselt er seine Strategie vom Einschmeicheln zum Drohen, vom Flirten zum Herumkommandieren, vom Liebkosen zur Brutalität. Thomas Dannemann verkörpert diesen Wendehals in eigener Sache genial mit jeder Geste, mit jedem Tonfall, mit jeder Bewegung. Diesem bärbeißigen Charmeur glaubt man gerne jede Flunkerei.

Um ihn herum hat Jürgen Gosch die anderen Dorfbewohner und -besucher in einem schmalen, bühnenhohen Betonkasten mit Sitzstufe versammelt und betreibt so Chaosforschung im eng begrenzten Untersuchungsraum. Nach dem Vorbild ihres Richters zeigen diese Menschen impulsiv ihre Gefühle ohne sie vorher durch die Kontrollinstanz ihres Verstandes zu schicken und erzeugen so ein Chaos in ihrem kleinen beschaulichen Dorf. Kein Entrinnen bietet die engstirnige Dorfwelt. Der Blick schweift nicht über weite Felder am Horizont. Statt Natur nur Betonwände ohne Ausblick. Wie auf der Wartebank ihres Lebens verharren die Beteiligten des tragikomischen Spiels. Diese Figuren - fast durchgehend auch gegen ihre Rollen jung besetzt - atmen Zeitgeist. Obwohl der Text von Heinrich von Kleist in einer behutsamen, sprachspielerischen Neuübertragung seine 200 Jahre alte Form behalten durfte, zeigen diese Menschen mit jedem fahrigen, gestressten Griff zur Zigarette, Sport-Wasserflasche oder Tasse Kaffee, dass ihr inneres und äußeres Chaos zeitlos ist. Jürgen Gosch versteht es mit vielen kleinen beiläufig eingestreuten Einfällen und einem hervorragenden Ensemble in diesem engen, eintönigen Rahmen über zwei Stunden die Aufmerksamkeit zu fesseln und beide Seiten, die tragische und die komische, brillant zur Geltung kommen zu lassen.

Birgit Schmalmack vom 18.5.04