Zeit zu lieben, Zeit zu sterben


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Das bunte Chaos des Lebens

Ein Kontrastprogramm zeigt Armin Petras im Thalia in der Gaußstraße bei seiner Inszenierung des neuen Stückes von  seinem Alter Ego Fritz Kater "Zeit zu lieben, Zeit zu sterben". Zwischen den verschiedenen Inszenierungsstilen liegt die Pause und der Grenzbalken.

Der erste Teil gibt Stimmungseinblicke in den Alltag in der ehemaligen DDR. Dichter Nebel legt sich dabei auf die Zuschauer und Schauspieler. In einem dunstigen Kreis um ein imaginäres Lagerfeuer hocken sechs erwachsenen gewordene Jugendlichen und erzählen sich Klatsch- und Tratschgeschichten aus der Jugendzeit. Unwesentlich dabei, ob es um die eigene Geschichte oder die eines anderen Jungbürgers der ehemaligen DDR geht - stets wird in der dritten Person berichtet. Wesentlich sind eher die Fragen: "wer mit wem?" und "wie oft?". Das Rund der Zuhörer bildet dabei den wissenden und verstehenden Chor.

Das Geschichtenerzählen fließt in eine genauere Betrachtung eines Falles hinüber. Da sind zwei Brüder Peter (Hans Löw) und Ralf (Peter Jordan), deren Eltern sich scheiden lassen und die bei der Mutter (Verena Reichhardt) aufwachsen. Der Onkel (Peter Kurth) kommt aus dem Knast und beginnt ein Verhältnis mit der Mutter. Die Brüder schlagen sich mit den Problemen des Erwachsenwerdens in der DDR und anderswo herum. Wer ist an wem interessiert? Wer bekommt das schönste Mädchen (Leila Abdullah)? Wer hat schon Erfahrungen vorzuweisen? Aber auch: Wer bekommt die Zulassung zum ersehnten Studium, die in der DDR nicht bloß von den Noten abhängt? Sollte man die Flucht in den "goldenen" Westen wagen?

Nach der Pause herrscht zumindest beleuchtungstechnische Klarheit. In der westlichen Welt angekommen befindet sich ein Paar (Fritzi Haberlandt und Milan Peschel) an Stelle zwischen improvisiert wirkenden, schnell verschiebbaren Einzelteilen der Kulisse nun in einem exquisiten Schuhgeschäft auf rosafarbenen Teppichboden, damit sie auf einer siebenten Wolke des Verliebtseins schweben können. Probleme wie eine vorhandene Ehefrau plus Kind oder unterschiedliche Herkunft und Sprache scheinen ihnen in diesem Zustand leicht überwindbar. Doch auch der schöne Schein kann nicht verhindern, dass ihre neue, saubere Welt Risse bekommt und ihre Liebe zerbricht.

Petras setzt die beiden Teile gegeneinander. Auch in der Welt des Konsums, der Individualisierung und der Marktwirtschaft, von der die Leute vor der Pause noch träumten, lassen sich die Lebenswünsche nur schwer verwirklichen. Die erste Hälfte zeigt die Menschen beim Durchwuseln und benutzt dazu eine passende Ästhetik, die improvisiert wirkt. Da wird mal eben die plastiküberzogene Matratze plus Teppichklopfer zum Liebemachen benutzt, da werden mal Frotteeponchos mit Puppenhänden zum Rollenspiel der beiden kleinen Jungen genommen und die alten Heizungslüfter als Tisch, als Bank, als Regal verwendet. In der zweiten Hälfte ist alles gestylt, nichts wird dem Zufall überlassen. Jedes eventuelle Staubkörnchen wurde in der Pause noch sorgsam mit einem Staubsauger entfernt. Pause und Grenzbalken trennt auch Ost- und Westästhetik. Konsum, schöner Schein, Marktwirtschaft, Individualisierung kontrastiert mit Mangel, Improvisationsgabe, Einfallsreichtum und Geselligkeit. Schien im ersten Teil das Chaos des täglichen Überlebenskampfes die Möglichkeit zum Glücklichsein zu zerstören, so wird sie auch in der künstlichen Idylle nicht gesteigert. In ihren Beziehungen neigen auch die Menschen in einer konsumorientierten Scheinwelt zum Durchwuseln im Auf und Ab des Lebens.

Drohte die Inszenierung vor der Pause in einem fast Zuviel an Ideen, Geschichten, Erzählsträngen, Überzeichnungen und witzigen Einfällen zu zerfasern, fand Petras nach der Pause einen wohltuenden klaren und stringenten Gegenpol in der Konzentration auf eine Geschichte.

Die bewährten Schauspieler, allen voran Milan Peschel und Fritzi Haberlandt, begeisterten mit ihrer Wandlungsfähigkeit und ihrem lakonischen Ausdruck, der für den ironischen Blick auf das bunte Treiben sorgte. Der Bauch von Peter Kurth scheint es Petras angetan zu haben. Ließ er ihn bei "Fight City.Vineta" schon tanzen, dient er dieses Mal zu einem ganz neuen Verständnis des Trends "Bauch frei".

Birgit Schmalmack vom 20.9.02