Zur schönen Aussicht


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Entwertete Gesellschaft

In einem schmuck- und fensterlosen Betonplattenbau ist das Hotel untergebracht, das ironischerweise den Namen "Zur schönen Aussicht" bei Ödön Horvarth trägt. Nur ein ovaler Durchbruch sorgt für einen Blick in den düsteren Himmel, an dem sich kein Lichtstreif zeigt. In diesem Hotel sind einige Gestalten (Bernd Moss, Achim Buch, Samuel Weiss, Klaus Rodewald)gestrandet. Sie haben sich aus der Kriegszeit hinübergerettet. Ihr Leben konnten sie zwar erhalten, aber ihre Seelen sind arg lediert. Alle haben sie Dreck am Stecken. Diese Gewissheit hält sie zusammen, obwohl sie sich gegenseitig nur das Schlechteste wünschen und antun. Das Misstrauen gegen jedermann sitzt tief. Der Krieg hat sie gelehrt, dass sich die Fronten sehr schnell ändern können. Jetzt scheint zwar vordergründig Frieden zu herrschen, doch in den Menschen ist das Menschliche verschüttet unter dem ganzen Dreck, Schutt und Unrat des Krieges. Die Sitten sind so verroht, dass sie sich immer noch so verhalten, wie der Krieg es ihnen beigebracht hat. Dabei gilt aber: Jeder gegen jeder, denn selbst die Fronten des Krieges sind hinfällig geworden.

Nur eine dieser Gestalten hat noch Geld: die Baronin (Ute Hannig). Dass sie schon älter ist und nur noch ein Bein hat, hindert sie nicht daran sich aller anwesenden Männer zu bedienen. Schließlich bezahlt sie dafür. Sie bestimmt die Regeln, denn sie hat das Geld. Das geht solange gut, bis ein weiterer Ankömmling dieses gut eingespielte Team, das sich geschworen hat, dass es so etwas wie ein Gewissen, wie Moral oder wie Ethik nicht mehr geben kann, stört. Die ehemalige Geliebte (Lavinia Wilson) des abgehalfterten Hoteldirektors Strasser (August Diehl) kommt an: Sie verkörpert die liebende, treue Unschuld. Naiv wird sie schnell zum Spielball der verrohten Gesellschaft. Von allen vergewaltigt, wird sie halbtot in der Ecke liegen gelassen. Welch eine Überraschung, als die Herren erfahren, dass das Mädchen mehr Geld hat als die Baronin. Plötzlich ändern sie schlagartig ihr Gesicht. Der spannendste Augenblick in der Inszenierung von Kusej ist gekommen: Winselnd, bittend und heulend werfen sie sich vor der jungen vermögenden Frau auf die Knie und geloben ihr Besserung. Doch sie hat nur an einem Interesse: an Strasser. Er bleibt allerdings standhaft bei seiner Aussage: Ihn interessiert nur das Geld. "Ich habe einen anderen geliebt," erkennt sie. "Ich war immer so, du hast es nur nicht sehen wollen," hält er dagegen. Sie geht und lässt das Geld zurück. Für sie ist es wertlos geworden ohne den Mann, mit dem sie es nutzen wollte. Nun passiert das Verwunderliche: Auch die Männer des Krieges erkennen, dass auch für sie das Geld ohne Wahrhaftigkeit keinen Wert hat. Keiner greift nach den Geldscheinen, sie werden von dem ständig durchs Gebäude pfeifenden Wind ergriffen und davon geweht.

Kusej ist ein Regisseur, der Mut zur krassen Darstellung hat. Er zeigt im Schauspielhaus eine sehr ernüchternde und erkenntnisreiche Theaterarbeit. Einigen Theaterbesucher war sie zu anstrengend. Doch ist sie jede Minute des Dableibens wert. Sie lehrt, wie nachhaltig der Krieg die Menschen verändert. Sind die Regeln der Menschlichkeit und der Wahrhaftigkeit erst einmal außer Kraft gesetzt, gelingt die Rückkehr zum friedvollen Leben nicht, auch wenn die Waffen endlich schweigen.

Birgit Schmalmack vom 27.2.06