Perspektive Hamburg



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Jetzt haben wir das Sagen!

Die Pisa-Studie hat es ins Bewusstsein gebracht: Der Bildungserfolg hängt in Deutschland stark von der Herkunft ab. Die Regisseurin Maria Magdalena Ludewig begab sich in ihrem beeindruckenden Diplomprojekt "Perspektive Hamburg" auf eine Forschungsreise durch Hamburger Wohn- und Kinderzimmer, um diese These mit Leben und Bildern zu füllen. Entstanden sind 40 Videoporträts, die auf einer DVD festgehalten wurden (bzw. im Internet unter www.perspektive-hamburg.de) und eine Bühnenfassung, die jetzt auf Kampnagel zu sehen ist.

Der spannende Abend dreht die Verhältnisse um: Nicht die Kinder müssen lauschen, welche Botschaften die Erwachsenen ihnen zu vermitteln haben, sondern heute haben die Kinder das Sagen. So halten die 40 Grundschüler zunächst eine Ansprache an die Zuschauer. Die eine Hälfte von ihnen kommt aus Jenfeld, einem eher problembehafteten Stadtteil und die andere aus dem wohl situierten Eppendorf. Wie sieht ihre Gegenwart aus und ist ihre Zukunft schon jetzt vorhersehbar?

Ein Junge stellt die These auf, dass Eppendorf eine Käseglocke sei, in dem alle unter sich bleiben würden. Zwei Mädels behaupten dagegen: Jenfeld habe den Ruf asozial zu sein und das stimme auch.

Im Laufe des Abends richten sie sich auf der Kampnagel Bühne nach ihrem Geschmack ein. Zelte, Sonnensegel Palmen, Blumen, orientalische Teppich, rosa Kuschelkissen, Bücher: für alles ist Platz. Hier treten sie einzeln oder zu zweit auf und erzählen davon, was sie bewegt. Ohne dass sie ihren Wohnort direkt ansprechen, wird sofort klar, von wo sie kommen. Da berichtet eine von ihrem Wunsch Anwältin zu werden. Abdul erzählt von dem schweren aber erfolgreichen Weg seines Vaters von der Türkei zu einem selbständigen Unternehmer in Deutschland. Hinter seinem Stolz auf seinen Vater spürt man den Anspruch dessen Erwartungen erfüllen zu können. Der nächste zeichnet eine Tabelle von arm und reich auf den Boden. Und ordnet sich selbst und sein Leben mit seiner Mutter zielsicher ein. Der nächste Junge hat iranische Eltern. Früher war er der Klassenbeste, jetzt ist er so "naja". Seine Eltern überlegen umzuziehen, damit er eine Schule in einem der besseren Stadtteile besuchen kann.

Ein Junge wohnt im 11. Stock eines Hochhauses. Seine Mutter ist sehr stolz auf ihn, weil er als einziger aus ihrer Familie so hoch hinauskam: Er hat eine Gymmi bekommen. Für ihn eine große Verpflichtung.Die nächsten Beiden träumen von einem Zoo in Australien, den sie mit Werbejobs (wie ihre Eltern) finanzieren werden. Ein Mädchen will Schauspielerin werden. Sie gibt dem Publikum selbstbewusst Kostproben ihres Könnens und fragt keck: Meinen Sie nicht, dass ich das könnte? Schließlich sei sie durch Golf-, Tennis-, Klavier-, Chor- und Ballettstunden doch wohl ausreichend qualifiziert.

Die Fee am Schluss wagt einen Blick in die Zukunft: 14 von uns werden Abitur machen, zwei von Hartz 4 leben, eine unter 18 Jahren schwanger werden. Am Ende bleiben für die Jungen und Mädchen viele Fragen: "Gibt uns jemand eine Chance?" "Sehe ich endlich mal meinen Vater?" "Ist Widerstand zwecklos?" Und auch nicht unwichtig: "Bin ich schön?"

Birgit Schmalmack vom 8.5.08