Körber Junge Regie 2011 - Thalia in der Gaußstraße


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Der diesjährige Sieger kommt aus Hamburg

Record of time - Gießen
Aus Gießen kam die Performance von Lea Letzel und Alexander-Maximillian Giesche. Sie untersuchten mit ausgefeilten Medieneinsatz das Verhältnis von Realem und Virtuellem und das Verstreichen von Zeit. In einem Wohnzimmer räumten zwei Menschen immer wieder Gegenstände von einer Ecke in die andere, scheinbar ziellos und zwecklos. Ihr projiziertes Doppel, das ihre Aktivitäten zeitversetzt vervielfachte, sorgte für kuriose Effekte, die zum Nachdenken über die Absurdität des Alltags in einer medialen Welt anregte.

Parzival - Salzburg
Salzburg schickte die Inszenierung von Laura Steinhöfel. In dreifacher Ausfertigung gab es die Hauptperson, die sich auf die Suche nach dem Gral machte. Der Wald hat hier jedes Romantische verloren. Karge Holzsäulen markieren die blattlosen schwarzen Bäume. Übrig bleibt eine öde, rutschige Fläche, auf der Parcival ins Trudeln gerät. Ein Percussionist treibt die Glückssucher an. Viele interessante Inszenierungsansätze mit Längen, deren Zusammenhang ebenso locker blieben wie die Szenenfolge, die Steinhöfel nach Tankred Dorst ausgewählt hat.

Schlafes Bruder - Frankfurt
Ein Gebirge aus Lautsprechern, die so eng zusammen stehen, dass ebenso wenig Entfaltungsraum für den Menschen bleibt wie in dem österreichischen Dorf, das Robert Schneider in seinem Roman "Schlafes Bruder" schildert. Auf eine atemlose, anregende Suche nach dem Abwesenden begibt sich das Geschwisterpaar Peter und Elsbeth. Das Publikum machen sie zum Schiedsrichter ihrer beider Wahrheiten über ihren Cousin Elias. Dieser ist ein musikalisches Genie. Während Elsbeth ihn grenzenlos bewundert und dieser sich in sie verliebt hat, giert Peter seinerseits eifersüchtig nach dessen Freundschaft. Der unverständliche und dennoch bewundernswerte Ausnahmekünstler wird zum Sehnsuchtssymbol des Unerreichbaren. Die Orgel wird stumm bleiben, Elias wird nicht kommen an diesem Abend. Regisseurin Laura Linnenbaum zeigte hochspannendes Sprach-Theater mit zwei wunderbaren Schauspielern (Henriette Blumenau, Johannes Kühn).

Der Tod und das Mädchen - München
Paulina will Schuberts Lied endlich zu Ende singen. Zögerlich beginnt sie, doch die Geräusche aus den Lautsprechergebirge hinter ihr entfachen ein infernalisches Störgewitter aus Erinnerungen. Denn für Paulina bestehen sie nur aus Tönen. Ihr waren die Augen während ihrer Folter zurzeit der Militärdiktatur verbunden. Als ihr Folterer eines Tages nichtsahnend zur Tür hereinspaziert, will Paulina ihm zusammen mit ihrem Ehemann den Prozess machen. Regisseur Till Wyler von Ballmoos inszeniert das Stück nach Ariel Dorfman als "Wiederhall" von Paulinas Erinnerungen, wie der Untertitel verrät. Wer die Geschichte kannte, konnte mehr von seinen zahlreichen Untertönen identifizieren. Die Party, die zum Schluss anlässlich des Geständnisses des Folterers gefeiert wird, sollte die Fallhöhe der drei Beteiligten erhöhen. Ein Trick, den dieses Stück und diese Inszenierung nicht nötig hatte.

In euren Augen - Wien
Verspielt arrangiert Jens Blum die eigenen Szenen über den Blick des Künstlers. Zwischen den aufgehängten Altgardinen werden die drei Schauspieler mal zur Prostituierten, alten Dame, Möchtegernkünstler, Museumsdozentin oder zum resignierten Ehepaar. Die Aufführung erinnerte zeitweise eher an eine liebevoll dekorierte Schultheateraufführung als eine Hochschulinszenierung.

Dreileben - Hamburg
Ein Seufzen, ein Hauchen, ein Lachen, ein Husten, ein Rauchen, ein Kratzen. Alltagsgeräusche bilden den Soundteppich für die Begegnung dreier junger Leute mit dem Thema Sterben. Gernot Grünewald zeigt in den übergroßen verschiebbaren Diarahmen keine Bilder von Tod, Altern und Sterben. Stattdessen rahmen sie die Gesichter und Bewegungen der jungen Schauspieler, die die Geschichten der Sterbenden erzählen. Grelles Neonlicht, das gnadenlos die Fakten offenlegt, wechselt mit Überblendungen der Projektionen. Immer wenn die Jungen für kurze Zeit aus der Geschichte aussteigen und von ihren eigenen Gedanken und Emotionen zum Thema berichten, wird der Abend richtig intensiv: Wie stell ich mir den Tod vor? Wovor habe ich Angst? Was kennzeichnet das Alter? Grünewald will die Lebensgeschichten ganz für sich sprechen lassen. Ein Bassist, eine Webcam und ein Sampler sind die einzigen weiteren Zutaten auf der Bühne. Sehr schlicht kommt seine Diplominszenierung daher. Seine Regieleistung steht bescheiden hinter den Lebensleistungen der Sterbenden zurück.

Medea - Essen
Drei Frauen suchen Medea, so könnte man diese Annäherung von Regisseur Karl Philipp Fromberger mit seinen drei Schauspielerinnen überschreiben. Mit Hilfe des Textes von Euripides versuchen sie diese rätselhafte Frau zu verstehen, die ihre eigenen Kinder ermordet, als ihr Mann sie verlässt. Sie schlüpfen wechselweise in die Rollen des Textes. Nur drei Stühle in dem leeren Bühnenraum stehen den schwarz gekleideten Frauen zur Verfügung. Hochkonzentriert wird daraus eine Sprachoper, die durch ständige Brüche fasziniert und interessiert. Immer wieder steigen die Schauspielerinnen aus ihrer Rolle aus und kommentieren die Medea aus heutiger Sicht. Ein bedrohlich anschwellender Ton steigert sich bis zum blutigen Ende. Fromberger verweigert durch seinen kargen Inszenierungsansatz die Flucht in die Dramatik der Geschehnisse und konzentriert sich ganz auf die psychologische Ebene. Eine stringente, außergewöhnliche Arbeit, die großes Talent zeigt.

Mädchen in Rüstung - Hildesheim
Drei Frauen in Partykleidchen schnalzen, zirpen, locken, säuseln in einer Reihe vor dem Publikum. Verführerisch ziehen sie die Zuschauer in die Geschichte Johanna von Orleans hinein. Die Nachricht der Besetzung Frankreichs lässt die junge Frau all ihre Weiblichkeit hintan stellen und verwandelt sie in eine tapfere Soldatenführerin zum Wohle ihres Landes. Die Partykleidchen werden nass, zerknittert, die Frisuren rutschen, die hochhackigen Schuhe fallen ab. Sie erzählen von Johannas Feldzügen, Siegen und Niederlage. Eigene Fantasie polstert die Lücken der Überlieferung auf. Die große leere Bühne füllen die drei Frauen spielend mit ihrer großen Präsenz und Energie aus. Das Regieteam Hannah Fissenebert (auch eine der Darstellerinnen) und Peer Ziegler zeigt eine spannende Recherche auf den Spuren einer ungewöhnlichen Frau bis zu ihrem bitteren Ende auf dem Scheiterhaufen.

Schuld und Sühne - München
Raskolnikow will die Leiter der Erkenntnis erklimmen. Ein Gebirge aus Aluleitern füllt die Bühne. Er will sich aus der Masse der Gewöhnlichkeit abheben. Dazu begeht er einen Mord. Raskolnikow ist ein talentierter, armer, zerrissener Intellektueller, die sich in eine krude Ideolgoie versteigt. In einer Prostituierten findet er eine Frau, die dennoch fest an seiner Güte glaubt. Hoch über Raskolnikow turnt die Ermittlerin des Mordes à la Lara Croft mit schwarzem Catsuit und umgeschnalltem Revolver auf den Leitern herum. Sie wird ihn überführen. Eine rasante Übertragung des Romans von Dostojewski auf die Bühne ist dem Regisseur Frederik Tiden gelungen. Der Sinn der Projektionen des Weltalls auf die Rückwand erschließt sich zwar nicht ganz, produziert aber schöne Bilder.

Vor der Sintflut -Berlin
Ein laufender und sprechender Pringlespappkarton verkündet Haon die frohe Botschaft, dass er eine Yacht gewonnen hat, mit dem er wie einst Noah die Welt bei der anstehenden Sintflut retten könne. Viele absurde Situationen später, in denen immer weitere Pappkartons maßgebliche Rollen übernehmen, hat Haon seine Rolle als Weltenretter so verinnerlicht, dass er sie annehmen kann und all sein Geld für sein erstes Tier, den Gorilla Artur, ausgegeben hat. Auf Haons Schiff, das sich als kleines gebrauchtes Motorboot herausstellt, wollen plötzlich auch alle Skeptiker mitfahren. Ein dickes Tau fängt sie beim Rangeln um die raren Plätze ein. Viel Spielfreude, Witz und Ideenreichtum zeichnet die Arbeit des Regieteams David Czesienski und Robert Hartmann aus. Schade nur, dass die Pappkartonidee die Bewegungsfreiheit der energiegeladenen Darsteller so einschränkte.

Preisverleihung
Der Gewinner des diesjährigen Festivals wurde erstmals in einer öffentlichen Jurydiskussion ermittelt. Fünf von den Juroren vorgeschlagene Produktionen wurden vor Publikum gelobt und kritisiert. In einer geheimen Abstimmung bekam Gernot Grünewald mit "Dreileben" drei der fünf Stimmen. Den Ausschlag gab die Relevanz des oft verdrängten Themas Tod und die sparsam, aber sorgsam ausgewählten Regiemittel sowie die kluge Projektplanung des Regisseurs im Vorwege.

Grünewald ist ein würdiger Preisträger des heutigen Körber-Festivals - wenn auch eher für die Gesamtheit und Unterschiedlichkeit seiner bisherigen Regiearbeiten als für die aktuell in der Gaußstraße gezeigte.

Birgit Schmalmack vom 3.4.11