Kassandra oder Die Welt als Ende der Vorstellung


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Zur Kritik von
Abendblatt

Rissiger Mythos Europa

Die Bühne ist vollgestellt mit schmalen Holzversandkisten. Drei Schauspieler (Katharina Schmidt, Martin Wißner, Sören Wunderlich) in ordentlich adretter grau-roter Kleidung nehmen an einer von ihnen Aufstellung und ziehen sich ihr Pendant als Handpuppe über. Mit den Puppenhänden graben sie in einem Sandhaufen nach Geschichten. Die Tragödien von afrikanischen Flüchtlingen liegen im Strandsand verborgen. Eine von ihnen holen die drei im Laufe der nächsten einundeinhalb Stunden an die Oberfläche: die von Blessing und ihrem Mann Bubarka. Die Beiden brechen aus ihrem Heimatland Nigeria auf, um in Europa eine bessere Zukunft zu finden. Fünf Jahre später sind sie erst bis Tanger gekommen und warten immer noch auf ihre Überfahrt. Doch ihr Schiff ist überfüllt und schlägt Leck. Nur Bubarka wird die Fahrt überleben. Das Tagebuch seiner Frau hat er stets dabei, wenn er an Touristen Souvenirs verkauft, immer auf der Flucht vor der Polizei.

Kevin Rittbergers Stück "Kassandra" beleuchtet nicht nur die Sicht Blessings, sondern nimmt besonders den Blick von Europäern auf diese Geschichte ins Visier. Da werden ebenso Dokumentarfilmer, Journalisten, Professoren, Grenzbeamte wie Touristen unter die Lupe genommen und hinterfragt. Die drei weißen Schauspieler springen sekundenschnell von einer Rolle in die nächste. Die Holzkisten werden mal zur Sitzbank, mal zur Kochtheke, zum Rednerpult und zur Unterwasserstation. Regisseurin Corinna Popp inszeniert den vielschichtigen Stoff mit den drei hervorragenden Darstellern auf spielerisch hintergründige Art. Der Mythos Europa als Absichtserklärung für Demokratie, Wohlstand und Toleranz bekommt zunehmend Risse. Absolut empfehlenswert!

Birgit Schmalmack vom 1.12.10