Kaltstart 2011  und Finale 2011


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Goldfischen

Nick steht kurz vor seinem Examen. Danach winkt die große Karriere und ein BMW als Dienstwagen. Gerade jetzt wollen sich Martin und Katja bei ihm einquartieren. Deren einziges Lebensmotto ist Spaß haben. Der Goldfischbesitzer Nick ist für sie ein lohnendes Objekt, mit dem sie zu ihrem Vergnügen ihr Spiel treiben können. Sie locken ihn mit Party, Alkohol, Pillen und Sex in eine Welt, die ihm plötzlich seine anvisierten Ziele sinnlos erscheinen lassen. Die Beiden stehen selbst am Abgrund, aber schubsen einen anderen hinunter.

Unter der Regie von Michael Mienert wird aus dem Stück von Jan Neumann eine fantasievolle, humorvolle Hinterfragung von Lebensperspektiven. Die drei in weiße Overalls gekleideten Darsteller schaffen es spielend auf leerer Bühne nur vor dem Foto eines weißen Sofas die Fantasie der Zuschauer so zu beflügeln, dass die Bilder im Kopf dazu entstehen.


Kaspar

Mit einem Satz die Welt zu eigen machen. Mit Wörtern Gegenstände benutzen können. Mit Regeln Ordnung in das Leben bringen. Das will Kaspar nun lernen. Er ist bisher ohne die Gesellschaft aufgewachsen. Erst im Erwachsenenalter trifft er auf andere Menschen. Die Worte, die er nicht kennt, schmerzen ihn.

Doch nun wird er zu einem funktionierenden Mitglied der Gesellschaft erzogen. Seine Lehrer kommen als fein gekleidete Besucher einer Abendgesellschaft daher. In wohl gesetzten Worten leiten sie Kaspar an.

Am Ende könnte Kaspars auswendig gelernte Selbstbeschreibung die Vorlage für ein heutiges Bewerbungsschreiben eines idealen Mitarbeiters sein: "Flexibel, genügsam, anpassungsfähig". Seine Siegerpose wird während seines "I am what I am" zu einer verzerrt lachenden Grimasse, aus dessen aufgerissenem Grinsen das Blut herausläuft. Tolle stingente Arbeit von Alexander Riemenschneider nach dem Text von Peter Handke, das als Gastspiel des Theaters Bonn zu sehen war.

Ich, Georg Büchner

"Büchner ist Rock", auf diese These bringt Ludo Vici aus München sein Stück "Ich, Georg Büchner". Er porträtiert den jung gestorbenen Dichter mit einer dichten Szenencollage, die er mit seiner Band vertont. Landschaftsbeschreibungen werden mit zarten Elektrogitarrenklängen unterlegt, revolutionäre Aufrufe im Hessischen Landboten mit wütenden Rockschlägen. Ludo Vici in löcherigem Ledermantel und Glatzkopf ist ein vielschichtiger Interpret des aufbegehrenden Büchners. Er zeigt die verschiedenen Facetten des talentierten "James Dean der Literatur". Er ist das Zentrum der Aufführung. Auf die personelle Besetzung der weiteren Rollen durch Andreas Mayer hätte bei seiner Stärke verzichtet werden können. Das beweist er in der Szene aus dem "Woyzeck", als er die Titelfigur und den Doktor gleichzeitig spielt, indem er bei letzterem einfach seinen Kopf senkt, auf dessen Glatze ein lieb lächelndes Gesicht gezeichnet ist.

Roter Sektor

"Roter Sektor - Die Geburt der Maschine" ist eine Collage aus Texten aus Santiago Roncagliolos "Roter April" und Heiner Müllers "Hamletmaschine". Macht, Erotik, Unterdrückung, Ideologie, Revolution: Diese Gemengelage ist die emotionale Grundlage der Arbeit von "Roter Sektor". Den historischen Hintergrund bildet die Entwicklung der Untergrundorganisation "Leuchtender Pfad" in Peru. Einen Remix der Langfassung erlebten die Zuschauer im roten Obergeschoss der Bernsteinbar.

Die schafsköpfige Masse trottet dem neuen Führer hinterher. Machterhalt, Angst und Anpassung lassen die eigentlichen Ziele in den Hintergrund treten. Das versuchen die Gruppe der Andrea Pani Laura Company mit Hilfe von lasziv vorgetragenen Revolutionssongs und schreiend überzogenen Machtdemonstrationen des lockenmähnigen Anführers zu zeigen. Doch die Performance bedient sich zu vieler gewollt eindrucksvoller Stilmittel, um nachhaltig zu beeindrucken.

Die Insel

Wie im Wartezimmer für das Leben fühlen sich Tom (Thomas Schumacher) und Chris (Christian Clausz). Die Nummern, die aufgerufen werden, sind nie die ihren. Sie fristen ihr Dasein in einem Gefängnis auf der "Insel". Statt den ganzen Tag Steine am Strand von einer Seite auf die andere zu schleppen, tragen sie auf der Bühne die Wartezimmer-Stühle von rechts nach links und zurück. Kündigt die Trillerpfeife endlich das Ende dieses Arbeitstages an, ziehen sie sich in ihre Schicksalsgemeinschaft der Zweierzelle zurück.

Chris bemüht sich Tom für eine Knast-Aufführung des Klassikers "Antigone" zu interessieren. Er soll darin die Titelrolle spielen. Tom entführt Chris im Gegenzug mit seiner "Gutenachtgeschichte" in einen Club. Dazu springen die Stahltüren des Zellenschrankes auf und Scheinwerfer lassen Tom im hellen Gegenlicht erstrahlen, während er eine HipHopnummer hinlegt. Dann rappen und breakdancen die Beiden, was der Boden des Kulturhauses hergibt.

Als Chris erzählt, dass er frühzeitig entlassen wird, springt Tom ihn von hinten an. Zu groß ist der Schmerz, dass sein Kamerad ihn verlassen wird, während für ihn, den Lebenslänglichen, das Wort Zukunft seine Bedeutung verloren hat. Hervorragende Inszenierung von Fabian Gerhardt des Dresdener Staatstheaters mit zwei tollen Schauspielern.

Invasion

Nebel, Theatergrollen, vier Schauspieler als türkische Muttis verkleidet schlurfen auf die Bühne. Das Klischee lässt grüßen.

Lachend reißen sich die Vier die Tücher vom Kopf und zum Vorschein kommen Jungs einer Schulklasse, die von einem Theaterbesuch ihrer Klasse erzählen, der mit einem Rauswurf endete. Regisseurin Mina Salehpour von Staatstheater Hannover versteht ihr Handwerk zum Glück viel besser als die Macher des Schulklassenstückes. Mit leichter Hand und sicherem Gespür für die Pointen erzählen ihre vier spielfreudigen, energiegeladenen Darsteller vom ruhm- und legendenreichen "Abulkasem". Wie sich die traurigen, lustigen, peinlichen und berührenden Geschichten um diesen Abulkasem ranken, ist so unterhaltsam und hintersinnig inszeniert, dass der übervolle Saal im Kulturhaus zum Schluss begeistert applaudierte.

Lebensansichten zweier Hunde

Wir spielen nur! Das machen die zwei Darsteller mit ihrer einführenden Rede ans Publikum gleich zu Beginn deutlich. Sie spielen zwei Hunde, die wiederum als zwei chinesische Wanderarbeiter aber vielleicht auch als zwei Schauspieler gesehen werden können. Sie machen sich auf in die Stadt, um dort ein besseres Leben zu führen. Fortan streunen sie als "großer und kleiner Bruder" durch die unwirtlichen Gegenden. Bis sie sich desillusioniert wieder auf dem Heimweg machen, haben sie einiges durchgemacht: Sie waren im Knast, haben in Löchern gehaust, gehungert, sich als dienstbare Geister oder als Hilfspolizisten verdingt und wurden verjagt und verprügelt. Immer wieder waren sie am Nullpunkt. Dann holte der kleine Bruder den Brustbeutel heraus, zog einen leeren weißen Zettel hervor und der große Bruder verlas einen weiteren imaginären Brief von "Mama", der ihnen neuen Mut gab.

Das Stück von Meng Jinghui verpackt mögliche gesellschaftskritische Anmerkungen an kapitalistischen Auswüchsen in der Geschichte zweier Hunde. Regisseur Dirk Böther dient sie jedoch vor allem als komödiantische Spielvorlage für seine zwei vielseitig talentierten Schauspieler. Die Situation der chinesischen Wanderarbeiter scheint für sie so fern zu sein, dass sie in den zwei Hunden eher die Parallelität zu zwei Theaterschauspielern erkennen, die mit ihren Künsten recht brotlos von Ort zu Ort ziehen. So bleibt die abwechselungsreiche Inszenierung, die sich sekundenschnellen Rollenwechsels, Gitarrenballaden, chinesischen Popsongs, Tangotanzes, Stockkampfes und Puppenspiels bedient, an der Oberfläche. Mögliche Zensur kann als Grund dafür in Deutschland nicht dienen. Hier scheinen sich die Beteiligten eher in ihrer überbordenden Lust am Spielen so verloren zu haben, dass die komischen Momente die tragischen völlig in Vergessenheit gerieten ließen.

Lanzarote

Ein einsamer Mann um die fünfzig bucht einen Urlaub im sonnigen Süden. "Aber nichts Arabisch-Islamisches!" Auf der Vulkaninsel Lanzarote landet er in einer Mondlandschaft. Mit dem deutschen Lesbenpaar Pam und Barbara erträumt er sich einen flotten Dreier. Im Vergleich mit dem Zufallsbekannten Bernd kommt er sich aufgeschlossen vor. Der desillusionierte Mann pflegt zur Beruhigung selbstgefällig seine Vorurteile, seine sexistischen Ansichten und seine lieb gewordenen Klischees.

Martin Benthin trägt seine Betrachtungen über die übrigen Reisenden, die karge Landschaft, den Tourismus, das Alter und den Sex mit stoischer Selbstverständlichkeit vor. Die Selbstironie, die dem Namenlosen fehlt, deutet er nur an. So überrascht die letztendliche Entscheidung des eigentlich höchst unsympathischen Mannes kaum: Dieser gibt sein bisheriges Leben auf und tritt einer Sekte auf der Insel bei, die an Außerirdische und Reinkarnation durch technischen Fortschritt glauben.

Die Geschichte meiner Einschätzung am Anfang des dritten Jahrtausend

Eigentlich geht es ihm gut. Er hat Geld, Arbeit, eine Wohnung, eine Frau. Sein Sofa beschreibt er als hochqualitativ. Doch plötzlich bricht ein Bein des Sofas ab. Der Mann kommt ins Rutschen. Seine Welt wankt und ein riesiger Schlund tut sich auf.

Wie die Welt eines Mannes in sich zusammenstürzt, macht Thimo Stuzenberger aus Wien zu einem Erlebnis. Man lacht Tränen wider Willen, wenn dieser schüchterne, empfindsame Melancholiker seine Großwetterlage beschreibt: Aus der immer scheinenden hellen Sonne mit einigen Cumuluswölckchen wird zunächst ein Schauerwetter bis nur noch einzelne Lichtblitze die Rabenschwärze seines Lebens erhellen.

Der Themenkomplex Liebe gleicht in seiner Wahrnehmung einem Absturz in die Kanalisation bei einem Wolkenbruch, der alles mit in die Tiefe reißt.

An Besserung glaubt er nicht: Leise summt er am kleinen Keybord: Nothing 'going change my world. Beeindruckende Umsetzung des Textes von PeterLicht vom Schauspielhaus Wien. Ein Höhepunkt des bisherigen Festivals.

Il Postino

Eine weiße Gardine flankiert von einem roten und einem grünen Perlenvorhang, eine Kiste voller Strandsand - und schon entsteht eine italienische Insel vor den geistigen Augen der Zuschauer. Il Postino, der Hilfspostbote, fährt mit der Fahrradklingel auf dem Zeigefinger beglückt über seinen neuen Job zu der berühmten Dichterin, die kurzzeitig auf der Insel Quartier bezogen hat. Sie eröffnet ihm eine neue Welt der Sehen, des Denkens und des Schreibens, die er nie zuvor betreten hatte. Sie lässt ihn die richtigen Worte finden, um die begehrte Beatrice zu becircen und zu seiner Frau zu machen. Eine poetisches Wohlfühltheater, das das Theater Rottstraße auf die Schanze brachte.

Warum das Kind in der Polenta kocht

Die junge Frau mit den vielen Taschen und Koffern richtet sich im Bus ein. Sie packt aus, was sie braucht um sich heimisch zu fühlen: Ihren Kochtopf, ihr Fotoalbum, ihre Papppuppen und einen kleinen Plattenspieler. Darin hat sie viel Übung: Mit ihren Zirkuseltern reist sie ständig von Ort zu Ort von Land zu Land. Aus Rumänien geflohen, sind sie ständig auf der Suche nach dem Paradies. Das Glück hat sich das Mädchen jedoch anders vorgestellt.

Der bilderreichen Sprache der zwölfjährigen Hauptdarstellerin gibt Nadine Schwitters nach und nach immer mehr Entsprechung im Utopia Bus, der zum Kaltstart auf dem Parkplatz neben dem Central Park Station bezogen hatte. Sie lässt den Vater auf der Leinwand auftreten, sie zeigt die Mutter, die an den Haaren in einer Zirkuskuppel hängt, sie präsentiert die Filmaufnahmen des Vaters. In einem selbst gebastelten Diorama klappt sie die kalten Berge auf, in deren Einsamkeit sie mehrere Jahre in einem Internat zubringen musste. Nach einem Unfall ihrer Mutter muss das Mädchen für den Unterhalt arbeiten: Sie steht in einem Nachtclub auf der Bühne, doch sorgsam wird die Jungfräulichkeit der Tochter behütet.

Einfühlsam und behutsam spielt Nadine Schwitter das junge Mädchen. Sie weint, lacht, trauert, ist enttäuscht, stolz, schüchtern und ängstlich. Schwitters Konzept zur Bühnenfassung des Romans von Aglaja Veteranyi ist aufgegangen.

Der Tod und das Mädchen

Jackie

Zwei Frauenmodelle treffen sich in "Jackie" auf der Bühne: Die Blonde mit hochtoupierter Betonfrisur räkelt sich auf dem Sofa und haucht: Happy Birthday, Mister President. Die Geliebte Marilyn ist das Kontrastprogramm zu John F. Kennedys Ehefrau. Jackie mit dem exakten schwarzen Pagenkopf bevorzugt Kleider, in die sie ihre Form einhängen kann. Folglich trägt sie ein Kleid, das nach dem Schnitt einer Papieranziehpuppe gefertigt ist: zwei gerade Teile an den Seiten nur durch Klettverschlüsse verbunden. Im Gegensatz dazu zwängt die erdlastige Marilyns ihr Fleisch in eine Form eines engen körperbetonten Kleid. Sie ist quasi in ihr Kleid eingenäht, während Jackie darauf achtet, dass niemand sie berührt, nicht einmal ihr Kleid. Jackie ist ihr eigenes Selbstbildnis. Sie weiß, wie es geht eine Ikone zu werden.

Unter der Regie von Kerstin Krug vom Düsseldorfer Schauspielhaus ist Janina Sachau Marilyn und Jackie zugleich. Sie legt ihre jeweiligen Kleider auf den Boden und stellt sich über sie. Sie legt das Spiel mit den Rollen durch Ironie und Übertreibung bloß. So zeigt der analytisch kluge Text von Elfriede Jelinek in dieser Inszenierung auch seine unterhaltsamen Züge.

Clyde und Bonnie

So sieht also die große Liebe aus: Werner mit mickrigem Schnäuzer kichert wiehernd über seine eigenen Witze. Bonnie in aufreizend engem Bonbon-Outfit und langer schwarzer Perücke will einen Quickie auf dem Autorücksitz.

Denn Liebe ist das Bild, das wir uns vom anderen machen. Das Prollpärchen sitzt also vor einem Haufen Videokassetten auf der Autositzbank und erzählt sich gegenseitig von seiner schweren Kindheit. Mangels anderer Alternativen nutzen sie ihr Wissen aus den zahlreich konsumierten Actionfilmen und werden wie ihre Vorbilder Bankräuber. Ihre Liebesimaginationskraft verwandelt Werner in einen erfolgreichen Banditen und Bonnie in seine coole sexy Kumpanin. Nur auf höchstem Erregungslevel können sie ihre Probleme, Meinungsverschiedenheiten und Lebensbanalitäten ausblenden.

Die Inszenierung hinkt aufgrund der ungleichen schauspielerischen Leistungen: Bonnie erscheint als witzige, lebenskluge Frau und Clyde dagegen als eher besserwisserischer, bemitleidenswerter Werner. Das Mysterium der Liebe bleibt auch nach der Aufführung ungelöst.

Survival of the fittest

Philippe Reinhard ist ein Schweizer Filmschauspieler. Ein attraktiver dazu. Davon sprechen die ungewöhnlich zahlreichen gestylten jungen Frauen im Publikum, die den Weg ins Frappant gefunden haben. Er spielt einen Mann, der um sein Überleben kämpft. Als Sohn eines erfolgreichen Geschäftmannes fühlt er sich genötigt ihn zu übertrumpfen. Er gerät in eine Schraube der Erwartungen, des Erfolgdrucks, der Selbstüberschätzung und der Fremdunterschätzung. Rettung in einer Welt des Turbokapitalismus, der Äußerlichkeiten und des Konsums scheint unmöglich. Nur der Fitteste überlebt. Das ist der Reim, den er sich auf sein bisheriges Leben gemacht.

So steht Reinhard mit nackten Füßen auf dem Betonboden in dem nackten Kachelraum des Frappants. Er schlüpft in die Rollen seines Lebens. Er wird zum kleinen Jungen, zu seinem Vater, zu seinem Geschäftspartner. Er begegnet erneut dem imposanten Hausmädchen, das seine erotischen Jungenfantasien anheizte. Eine große Herausforderung, der Reinhard nicht immer gewachsen war. Die ganz auf Purheit setzende Regie von Helge-Björn Meyer, bot hier zu wenig Unterstützung. Noch vorhandene Unsicherheiten hätten vielleicht durch ein Mehr an Requisiten, Bühnengestaltung, Musik, Licht abgefedert werden können.

My name is Peggy

Dreams are my reality. Peggy stellt sich mit einer weißen Haube über dem Kopf vor die Leinwand. Die Projektionen von unterschiedlichen blonden Modelköpfen geben ihrem Körper ein neues Gesicht. Peggy ist ein junge Frau, die auf der Suche nach selbst bzw. ihrer Lieblingsvorstellung von sich selbst ist. Gleichzeitig versucht sie die antizipierten Erwartungen ihrer männlichen Umgebung zu erfüllen und gerät so in einen Spagat, der sie immer wieder zur Kleiderecke laufen und sich in ein neues Outfit stürzen lässt. Ich bin meine Wirkung, glaubt sie. Um den Beschützerinstinkt des Mannes zu wecken, spielt sie bevorzugt eine Behinderung oder Krankheit. Im Monolog von Marc Becker geht es um eine Frau, die so gefangen in ihrem Prinzessinnendenken ist, dass sie nur auf ihren Retter auf dem weißen Pferd wartet. Errungenschaften der Emanzipation sucht man hier vergeblich. Regisseur Christian Reichel bringt den Text als Selbstinszenierung eines quasselnden Girlies auf die Bühne. Agnes Jaworek gönnt ihrer Figur nur einen Hauch Selbstironie, das ist sinnig, denn auch Peggy scheint dazu nicht in der Lage.

Aber wenn du gehst Sarah Sani nimm alles mit was dir gehört

Eine Frau will ihr Leben ordnen. Dazu sortiert sie die selbst ausgeschütteten, bunten Bälle nach Farben in die Plastikeimer. Sie gerät ins Schwitzen und kann trotzdem am Ende nur Halbfertiges, Unbefriedigendes vorweisen.

Tina Pfurr stellt diese psychisch labile Frau dar. Ebenso wie die Bälle versucht sie ihre Erfahrungen in ihrem Beziehungschaos zu ordnen. Philosophische Ergüsse z.B. von Luhmann helfen ihr dabei wenig. Sie findet kein Konzept für die gegenseitigen Gefühle zwischen den Geschlechtern. Ihr Misstrauen gegenüber dem normativen, geklauten Sex, der Liebe erzeugt und bindet, bleibt.

Das Gastspiel des Ballhauses Ost in der Regie von Daniel Schrader konnte nicht rundum überzeugen. Zu groß war der Kontrast zwischen gewollt intellektuellem Text und zu bodenständiger Darstellung inklusive beiläufigem Slapstick.

Halt mir einen Platz frei, bis ich anders wieder da bin

Zwei nackte, stark behaarte Urmenschen liegen auf dem Boden. Eine frühe Form des Hospitalismus scheint sie zu plagen. Sie rutschen, reiben und schaukeln in emsiger Selbstbezogenheit auf dem Boden. Kein Blickkontakt stört die Selbstbefriedigung. Sie schnaufen, grunzen und heulen. Eine Urschreitherapie hilft weiter. Laute Brunftgeräusche kündigen die Paarungszeit an. Balanceakte auf dem Anderen lösen kunstvolle Verknotungen ab. Angela Schubot und Martin Clausen erkunden in ihrer gemeinsamen Arbeit die gesellschaftlichen Verpflichtungen zur Anpassung und die Funktionen und Aufgaben der Liebe.

Eine interessante Studie, die jedoch bis zum Schluss schön rätselhaft blieb, zumal die begleitende Musik der Gruppe "Formelwesen" aus der Originalversion beim Kaltstartfestival fehlte.

Birgit Schmalmack vom 25.6.11

Finale 2011

Die heilige Cäcilie

Die Macht der Musik ist das Thema der Kleistschen Erzählung "Die heilige Cäcilie". Heute ist Musik allgegenwärtig. Die MTV-Generation ist mit diesen immerwährenden Einflüssen groß geworden. So war für die Inszenierung von Lea Connert der Ausgangspunkt klar. Der allumfassende Einfluss der Musik und der Technik auf unser heutiges Leben sollte erkundet werden. Alle Beteiligten waren aufgerufen ihre eigenen Erfahrungen und Ideen beizutragen. So ist aus ihrer gemeinsamen Arbeit eine Szenenrevue geworden, die den Unterhaltungsaspekt hervorragend berücksichtigt.

In fantasievollen Plastikkostümen kommen die Vier mit Roboterbewegungen auf die Bühne, auf der vier Mikrophone von der Decke baumeln. Mit immer neuen Nummern zeichnen sie eine Entwicklung nach, die immer mehr menschliche Funktionen durch Maschinen ersetzen lässt. Ihre Prognosen ist düster: Übrig bleiben Technokörper und ein Rauschen aus einem der zahlreichen Radiogeräten, die für den Anfangspunkt dieser Entwicklungsspirale stehen mögen. Ideen-, Energie- und Spaßreiche Umsetzung, die zugelich zum Nachdenken anregte; wenn sie auch die Verbindung zum Ausgangspunkt von Heinrich Kleists Geschichte weitgehend im Diffusen beließ.

Helden

"Uns geht doch wirklich gut." Die Mutter (Antonia Bill) sieht es als ihre Aufgabe an eine Bilderbuchfamilie darzustellen. Ihr Ehemann (Andy Klinger) steht ihr dabei stets eilfertig zur Seite. Auf der Bühnenrampe arbeiten sie an ihrer Selbstdarstellung und nutzen sie für Botschaften an die Welt.

Ihre Liebe erdrückt die Kinder. Der Tochter (Jasna Bauer) bleibt die Luft zum Atmen weg, der Sohn (Christian Löber) sieht sich zu einem Punkt zusammenschrumpfen. Sie suchen nach einem Weg, ihre passgenaue Einsortierung ins System zu verhindern. Des Nachts werden sie zu Helden, die sich wehren. Sie legen ihre Kleidung ab und zum Vorschein kommen Catwomen und Spiderman. Endlich können sie aufbegehren und sich gegen den Zugriff ihrer Eltern wehren, die das Glück nur spielen .

Eine Inszenierung der Ernst-Busch-Schule aus Berlin, bei der alles stimmte: der Text von Palmetsdorfer, die Inszenierung von Roscha A. Saidow, die Musik von Atheer Adel und die brillianten Darsteller.

Das kleine Hasenstück

Zur Kritik von
noz

Anjorka Strechel steht auf Rollen. Die Vollblutschauspielerin rollt nicht nur auf Rollschuhe über die Straße, das Foyer und die Bühne, sie schlüpft auch in halsbrecherischem Tempo in die verschiedenen Hasenrollen, die ihr Kathrin Mayr zugeschrieben hat. Als Angsthase philosophiert sie über die Angst, die der Feind des Lebens ist. Als Teil einer aufbegehrenden Hasenarmee über die Hasenmoral, die nur eine Reaktion ist und des Ressentiments bedarf.

Wenn sie die Aufmerksamkeit des Publikum für ihre Zauberkunststückchen vermisst, ruft sie: "Schauen Sie doch lieber einen Film!" Die Videoeinspielungen zeigen sie in ihrem Hasenkostüm durch die Stadt schlendern: im Waffenladen, im Zoo, in der Kneipe und beim Einkaufen. Hier ersteht sie einen riesigen Bilderrahmen. Sie schleppt ihn wie einst Jesus schwer atmend auf die Bühne. Eine Performance a la Beuys wird angekündigt: Der leere Rahmen dient für eine Kunstinstallation, die der Zuschauer auf sich wirken lassen soll. "Füllen Sie die Fläche." Als das Absperrband wieder entfernt ist, sind alle Möglichkeiten wieder erschreckend weit offen. Und der Hase kann aus dem Bild treten. Er steht nämlich nicht für des Zuschauers Bild von einem Hasen zu Verfügung. Auch nicht für das eines Bunnys. Während Anjorka Strechel sich mit Schleifchen, rosa Höschen und rosa Öhrchen versieht und sich auf der Kiste räkelt, philosophiert sie über die Determinierung der Hasen und der Häsinnen. Sie verweigert sich den Zuschreibungen und verlässt den Raum.

Rundum begeisternde Vorstellung der energiegeladenen Darstellerin Anjorka Strechel!

Der Findling und Anti is gone

Das Bühnenbild war originell: In einer gehäkelten weißen Berglandschaft spielt sich das Drama "Der Findling" ab. Wie auch im späteren "Anti is gone" gab die Textreue den Ton vor, hielt die Beleuchtung durch Overheadprojektoren die Anteile von Schatten groß und war der Rollentausch en vogue. "So bin ich denn kein Mann, sondern du", wurde zum zentralen Aufhänger im Konflikt zwischen Kreon und Antigone. Allerdings viel zu offensichtlich: Im Lendenschutz von Kreon blinken die LEDs. In beiden Arbeiten gab es einige interessante Anfangsideen, die leider ohne Konsequenz und Spannung umgesetzt wurden.

Birgit Schmalmack vom 4.7.11