150%Festival 2011


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Festivaleindrücke

Come on you boys in brown

Das ganze Leben ein Spiel, das wünscht sich die 14jährige Chrissi. Ihr Leben ist streng durchorganisiert. Jeder Tag ist nur einem Thema gewidmet: St.Pauli. Als echter Fan weiß sie alles über ihren Verein. Diese Lernfähigkeit lässt sie in der Schule vermissen. Nur mit dem Herzen lernt man, nicht mit dem Kopf. Gesa Boysen zieht sich das St.Pauli-T-Shirt, das Chrissi nie ablegt, und die Mütze über und rockt zu der Pauli-Hymne über die kleine Bühne im St.Pauli-Clubheim direkt hinter den stählernen Absperrgittern. Dem Mädchen gibt dieser Verein ein Stück Wärme, Zusammengehörigkeit und Lebenssinn, den sie sonst nirgendwo findet, weder in der Familie, bei den Freunden noch in der Schule. Ohne Pauli wäre ich tot. Tolles Psychogramm eines weiblichen Fußball-Fans lieferte Gesa Boysen genau am richtigen Spielort.

Pornorama Ein Männermärchen

Karen Köhler verteilt zunächst Eislutscher im Publikum, lieb lächelnd, in Alltagskleidung, ohne Schminke. Dann legt sie ihre Chinohose ab, die Highheels über die pinkfarbene Strumpfhose an, öffnet sie ihren Koffer und belegt die Bühne in der Hamburger Botschaft mit den Requisiten für ihre Recherche über die Pornoindustrie aus weiblicher Sicht. Viele Fakten wird sie in den nächsten 75 Minuten präsentieren. Die Lebenserwartungen der Darsteller liege bei 37,4 Jahren und in dieser speziellen Sparte der Filmindustrie mehr viel Geld zu machen als bei Google, Ebay und Facebook zusammen. Gerade Internet hat ihr zu neuem Aufschwung verholfen. Während Köhler in ihrer Jugend mit Dr. Sommer vorlieb nehmen musste, wächst jetzt eine Generation Porno heran. Einfache Inhalte und schlichte Stories sind bei den Pornofilmen gefragt. Nach der Milchphase, der Analphase, der multiplen Phase deutet sich nach ihren Erkenntnissen jetzt eine Gewaltphase an. Die Mehröffnungspuppe Lulu von Amazon für 10,40€ dient Köhler als gern genutztes Vorführungsobjekt, um die Praktiken zu demonstrieren. Köhler schlüpft derweil in die Rolle der goldbehängten Männer oder der überschminkten, überangepassten Frauen. Mal auf amerikanisch, mal auf bayerisch. Sie gibt Einblick mit ironischem Witz und unschuldigem Charme. Ihre Aufklärungsshow unter der Regie von Fanny Brunner ist witzig, ernst, unterhaltend und informativ zugleich.

Liebeserklärung

Hunderte von Oberhemden bedecken den Boden. Ein Mann sitzt inmitten der Zeugen seines Lebens als Geschäftsmannes und erzählt von seinen Schwierigkeiten mit der Deutschen Bahn und denen in seinem Liebesleben. Das ständige Zugfahren hat ihn von seiner Ehe mit Z. entfernt und gleichzeitig einer neuen Liebe entgegen gefahren. Auf seinen langen Zugfahrten hat er nicht nur viel Zeit sich über "die Betriebsstörung Deutschland" zu ärgern, die sich in der DB wieder spiegelt, sondern auch über seine eigenen Beziehungsstörungen. Was ist eigentlich die Liebe? Lust am Sex? Zuneigung? Begegnung? Erregungsstörungen? Sehnsucht? Mirko Thiele erkundet mit Unterstützung durch den Musiker Philipp Feit an der E-Gitarre die Seelenlandschaften eines Mannes. Regisseurin Alexandra Schauwienold zeigte anlässlich des Festivals eine Preview ihrer Inszenierung im Lichthof.

Woyzeck

Woyzeck ist einer von ganz unten. Gernot Grünewald wählt ein einfaches Bild um seine dreckige Situation deutlich zu machen: Die sechs Schauspieler kippen sich gleich zu Beginn einen Kübel Schlamm über den Kopf. Unter einfachen Baustellenlampen beleuchten sie danach die Lage Woyzecks.

Sie alle sind Woyzeck. Wenn sie wechselweise zum Hauptmann oder Doktor werden, steigen sie einfach auf einen der Stühle und bellen ihre Befehle Woyzeck entgegen. Grünewald findet einprägsame Bilder für die Unterdrückung Woyzecks. Er wird mit Dreck beworfen, er wird gewürgt, ihm wird Dreck in den Mund gestopft, ihm werden alle verfügbaren Stühle übergestülpt, bis er letztlich bewegungsunfähig ist. Dunkel ist die Bühne, die Baustellenlampen werfen nur kleine Lichtkegel auf die verdreckten Schauspieler. Eine expressive, eindrückliche Inszenierung, die den Mut hat alles auf eine Karte zu setzen, auch wenn sie dabei einige Aspekte des Stückes unberücksichtigt bleiben lassen muss.

Langeweile ist wichtiger als Deutschland

Ein Moderator gibt vor Beginn eine Kurzzusammenfassung des Inhalts des zu erwartenden Stückes: Das ist schnell getan. In "Leonce und Lena" geht es vornehmlich um Langeweile und Ziellosigkeit. Beide Aspekte macht die Theatergruppe Cobra auch in ihrer Umsetzung "Die Langeweile ist wichtiger als Deutschland" nachfühlbar.Es beginnt mit einem konzentrierten Moment: Drei aufgetakelte Schauspieler stehen dicht gedrängt auf der kleine Treppe vor der Landkarte. Wortlos illustrieren sie ihre Stellung und Stimmung. Die Sängerin in ihrem Schatten gibt mit ihrer stimmgewaltigen Songanklängen ironische Kommentare. Danach zerfasert das Stück allerdings zusehends vor gewollt witzigen Einfällen. Die Konfettirakete zum Schluss zündet passend erst mit Ladehemmung.

Othello

Othello, ein Charakter voller Widersprüche. Das hat die iranische Regisseurin Atefeh Tehrani mit ihrem Ensemble Indra Dance gereizt. Zu unterschiedlichen Musikstücken aus Musicals, Opern oder der Tangoszene erzählen die neun Darsteller die Geschichte ohne Worte. Desdemona und Othello berühren sich in dieser Umsetzung nicht. Denn das iranische Theater unterliegt bestimmten Regeln: Männer und Frauen dürfen sich nicht berühren, die Frauen dürfen nur ihr Gesicht und ihre Hände unbedeckt zeigen. Tehrani begreift diese Regeln in erster Linie nicht als Beschränkung sondern als künstlerische Herausforderung. Raffiniert wird die Kontaktaufnahme mit andeutungsvollen Fingerzeigen, Fußdrehen oder mittels Tüchern hergestellt. Jago ist ein grinsender Teufel, der Othello ins Genick springt und ihn mit stetiger Manipulation gefügig macht, solange bis er die zugleich geliebten und gehassten Desdemona mit dem schwarzen Tuch erstickt hat. Vielleicht war es nur ein Zufall, dass dieses Tuch in der Schlussszene wie ein Tschador wirkte, vielleicht aber auch eine raffinierte Andeutung.

Tokio 3,6 V

Das Abschlusskonzert von BOSMOS (Wilco Alkema und Lars Unger) versammelte auf der Bühne der Hamburger Botschaft eine Menge Schrott. Doch aus ihm haben die beiden Künstler eine sorgsam aufgeschichtete, gut verkabelte Installation geschaffen, die die eigenen Klangkreationen mit Gitarre, Sampler, Laptop und Soundmaschine effektvoll beleuchtet und bebildert. Klimpert Wilco gerade harmonisch auf seiner Steal-Gitarre, zaubert Lars mit vier Diaprojektoren orangerote Bilder von Sonnenuntergängen und Bäumen. Ein paar Knopfdrücke später ist der Sound metallisch sirrend mit harten Beats unterlegt und die Bilder werden zu blauen Lageplänen. Bald darauf hopsen die Klänge rhythmisch launig durch den Raum und Lars hat passend dazu den Spielautomaten zum Leben erweckt, das Discolicht angestellt und Dias von Reeperbahn-bunten Bildern auf die Schrottkulisse geworfen. Spannend und überraschend bis zur letzten Minute ist das Konzert von Bosmos.

Uns somit eine perfekte Überleitung zur Preisverleihung der Publikumspreise, die Tatjana Dübbel und Christian Concillio mit Blumensträußen, Schokoladentafeln und Preisgeldern vornahmen: Der dritte Platz ging an die Produktion "Atmen", der zweite an "Pornorama" und der erste an "Und wenn sie nicht gestorben sind". Letztere ist eine fantasiereiche, witzige One-Man-Show mit Martin Herwig, der sich in den Kostümen von Cora Sachs frei nach Jelineks Drama in ihre Prinzessinnen verwandelt.

Birgit Schmalmack vom 16.4.11