Youngstar-Fest auf Kampnagel



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Fly society
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Willy Town

Wortlose Geschichten des Scheiterns

Direkt am Kanal  sind sechs Schiffcontainer zu einem kleinen zweigeschossigen Wohnblock aufgeschichtet. Der eine ist himmelblau verkleidet, der zweite mit Holzlatten verbaut, der dritte mit einem Bassin unter Wasser gesetzt, der vierte hat eine schiefe Ebene, der fünfte lauter flatternde Plastikstreifen und der letzte täuscht Gemütlichkeit mit vielen Stehlampen vor. In jedem von ihnen hocken sinnierend einzelne Menschen. Sie gehen Beschäftigungen nach, die Bedeutung nur vortäuschen. Mal versuchen sie mit Kernen Porzellanschalen zu treffen, mal kämpfen sie mit einem Stuhl, mal senden sie per Rosen geschmückten Armenbewegungen Botschaften in die Welt. Immer wieder überwinden sie die Grenzen zum Nachbarcontainer, kurze Begegnungen scheinen möglich, die aber gleich wieder abgebrochen werden. Gescheiterte Kommunikation, fehlende Lebensziele, sinnfreie Alltagsbeschäftigungen, Vereinsamung, unerfüllte Sehnsüchte und Lebensschiffbrüche sind zu beobachten.

Inzwischen inszeniert Pavel Semchenko seine eigene improvisierte Musik- und Performanceshow auf dem Boden vor dem Containerblock. Während Semchenko sich abmüht, um unter Schmerzen für Aufmerksamkeit zu sorgen, erzählen die sieben Schauspieler ganz selbstbezogen und -vergessen ihre wortlosen Geschichten des Scheiterns. Erst zum Schluss keimt Hoffnung auf: Nachdem Semchenko in einem Feuerkreis all die Scherben und Abfälle der bisherigen Bemühungen verbrannt hat, treffen sie sich in einem drei Container und feiern zusammen an einem Tisch ihre neu entdeckten Gemeinsamkeiten.

Diese kryptisch geheimnisvolle Performance, die das Künstlerkollektiv Akhe aus St. Petersburg gemeinsam mit jungen Künstlern aus Hamburg erarbeitete, war ein passendes Ende für das diesjährige YoungStarFest. Zeigte sie doch, wie breit und international das künstlerische Spektrum dieses Jahr für die Arbeit mit den Nachwuchsdarstellern angelegt war.

Freiheitskämpfer für den eigenen Weg

Zu einer Hochenergiezone wird die K1, wenn hier eine neue Art der Fortbewegung erprobt wird. Hier werden neue Wege ausprobiert, die zeitweise die Schwerkraft aufzuheben scheinen. In der "Fly society" wird eine Gesellschaft der fliegenden Menschen erschaffen. Sie haben sich ein eigenes Reich zwischen Springböcken, Reckstangen, Gerüstbauten und Podesten und Matten gebaut. Eigentlich ist ihr Terrain die Großstadt. Für sie sind Mauern, Wasserläufe, Treppen und Dächer keine überwindliche Hindernisse sondern Herausforderungen. Sie sind Parcourläufer und Freerunner.

Wenn Choreographin Rica Blunck von der Ex-Gruppe Coax mit diesen Leuten arbeitet, sie mit den jugendlichen Tänzern des K3-Jugendklubs anreichert, sie durch die Musik von Niels Lorenz antreiben lässt, dann wird daraus ein künstlerischer Aufruf für die Freiheit seinen eigenen Weg zu suchen, alle Hindernisse nicht aus dem Weg zu räumen, sondern elegant zu überspringen, Ängste zu überwinden und den Kick im Leben nie aufgrund möglicher Risiken zu versäumen.

Blunck fügt die Zutaten zu einem außergewöhnlichen Tanzabend zusammen, der nachhaltig beeindruckt. Er verbindet die Professionalität von hart trainierenden Könnern mit der spritzigen unverbrauchten Energie von Jugendlichen.

Doch es gibt auch die stillen Momente. Dann stehen die Nachwuchstänzer im Mittelpunkt. Standen sich die beiden Gruppen zu Beginn noch verständnislos gegenüber, so ergeben sich im Laufe des Stückes immer mehr Begegnungen. Pas de deux, bei denen eine Tänzerin von einem der Parcourläufer durch die Luft geworfen wird, oder gemeinsame Sprünge über die Podeste und Böcke, die in immer neuen Variationen gekonnt überwunden werden wollen, lassen die Energie auch zwischen ihnen fließen.

Nicht nur die zahlreichen Angehörigen im Publikum halten den Atem an, wenn die stuntähnlichen Sprungkombinationen vollzogen werden. Nicht nur die Verwandten trommeln und jubeln zum Schluss vor ehrlicher Begeisterung über die mitreißende Show.

Birgit Schmalmack vom 13.5.11

Generation der Unrührbaren

Antigone ist eine junge Frau, die aufbegehrt. Trotz angedrohter Todesstrafe stellt sie sich gegen den Herrscherwillen. Sie protestiert gegen die herrschende Meinung und tritt für ihre Überzeugungen ein. Sie will ihrem Bruder Polyneikes eine Grabstätte geben, die ihm der Herrscher Kreon verwehrte.

Regisseur Branko Simic erkannte sogleich die Parallelen zu seinem Heimatland Bosnien. Auch hier hoffen immer noch Tausende auf die Möglichkeit ihren Angehörigen eine Grabstätte zu geben. In seinem Antigone-Projekt mit bosnischen und deutschen Schauspielstudenten forschte er den Spuren Antigones in den Geschichten der jungen Generation nach. Durchgehend zweisprachig sind alle Rollen doppelt besetzt: von einem bosnischen und von einem deutschen Schauspieler bzw. Schauspielerin. Das hat besondere Reize, wenn die Rollen so unterschiedlich interpretiert werden wie bei Kreon: Ihn gibt es einmal als jovial-perfide weibliche und einmal als markant-machohafte männliche Ausführung. Eingespielte Interviewszenen zeigen die Schauspieler mit ihren Antworten zur Bedeutung von Politik, Engagement und Krieg in ihrem Leben. Die Haltungen unterscheiden sich in einzelnen Punkten stark. Während der Deutsche Marc Simon Delfs die erste Berührung mit einer politischen Entscheidung spürte, als das Rauchverbot in Kneipen erlassen wurde, berichtet der Bosnier Mirza Salihvic von dem Geräusch der Mörsergranaten in seiner Kindheit und dem plötzlichen und nie aufgeklärten Verschwinden seines Vaters.

Simic ging assoziativ mit dem Anregungspotenzial des Antigone-Stoffes um. Den Bosniern im Team fiel die Identifikation sichtlich leichter, den Deutschen gelang das Einfühlen erst beim einwöchigen Besuch in Tuzla während der Probenzeit. Während sich die Deutschen in ihren kuschelweichen Konsumschutzkokon des Alltags in einem Land zurückziehen können, das Kriegshandlungen nur aus dem Fernsehen kennt, ist auch für die Generation der Bosnier, die den Krieg nicht direkt miterlebt hat, die Vergangenheit in jeder ihrer Familien stets präsent. "Sind wir etwa eine Generation der Unrührbaren, die für keine Ideale mehr aufbegehren wollen?", fragte sich eine deutsche Zuschauerin am Ende selbstkritisch.

Sonniges Willy Town

"Hier will ich nie wegziehen. Hier sind alle meine Freunde und Verwandten." "Hier ist es schön und ein bisschen kriminell. Das ist doch gerade das Schöne!"

Klar ist die Botschaft, die die Höreinspielungen, die Filmszenen und die Tanzeinlagen vermitteln: Willy Town hat den besten Döner, die einzige Honigfabrik, eine Gesamtschule mit eindrucksvollen Kunstwerken in den Fluren und ist auch ansonsten ein nettes Fleckchen Erde.

Nach einem Rap, einem filmischen Rundgang durch die Gesamtschule und einigen sparsam choreographierten Tanzszenen ist der rundum sonnige Einblick in die Wilhelmsburger Lebensverhältnisse schon wieder vorbei. Ohne Zwischentöne kommt die 45-minütige "bewegte Stadtteil-Doku" von Thomas Marek und Karolin Schäfer mit den Kids der Klasse 8a aus. Positiv verstärken würde so etwas wohl im Pädagogen-Jargon heißen.

Birgit Schmalmack vom 8.5.11