Lügen!

Rosa Thormeyer in "Lügen!" by Jasper Stange


Lügen, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen

Erhebt die permanente Selbstdarstellung, zu der sich heutzutage jeder bemüßigt fühlt, das Lügen nicht zu einer Dauerverfassung statt zu einer Ausnahmeerscheinung in Notfällen? So muss man lügen, um endlich wieder der Wahrheit auf die Schliche zu kommen? Die 10 Protagonisten der Szenen, die Nikolas Darnstädt geschrieben hat, versuchen die immer größer werdende Diskrepanz zwischen ihrem Selbst und ihrer Umwelt aufzuspüren. Sie sind sich dabei der Fallstricke der eigenen Wahrnehmung genauso bewusst wie der Fremdzuschreibung ihrer Umgebung. Sie landen mit sicherem Gespür für die Abgründe genau in der Gletscherspalte dazwischen. Eingequetscht von ihren eigenen und den fremden Erwartungen versuchen sie sich durch dezidierte Beschreibung ihrer Lage wieder aus der Klemme zu befreien.
Eine Malerin, die merkt, dass sie plötzlich keine Menschen mehr zeichnen kann. Eine Tochter, die ihre eigene Todesanzeige in der Zeitung liest, zu ihrer eigenen Beerdigung geht und die dort keiner erkennt. Eine Frau, die von ihrer Umwelt signalisiert bekommt, dass ihre Gefühle zu wenig konkret seien, um berücksichtigt zu werden. Eine Partnerin, die ständig um ihren Freund kreist ihn aber nicht erreichen kann. Eine Frau, der der eigene Selbstmord nahegelegt wird, um den vermeintlich kommenden Qualen des Lebens zu entrinnen. Das sind die Figuren, deren Lebensgefühl Darnstädt beschreibt und die Rosa Thormeyer alle verkörpert. Das dies gelingt, liegt nicht zuletzt an der Eindrücklichkeit und Sensibilität, mit der Thormeyer blitzschnell von einer Stimmungslage in die nächste zu wechseln versteht. Gerade noch neurotisch in Selbstzweifel und in eng umgrenzte kleine Bewegungsabläufe verstrickt, springt sie kurz darauf mit dem Mikro vergnügt über die Bühne. Gerade noch depressiv auf den Boden starrend, blickt sie gleich darauf dem Publikum kess in die Augen. Den Soundtrack gibt dabei die Band von 17-jährigen Multitalent Darnstädt „Nicht“ live auf der Bühne vor. Mit geschickten Klang- und Lichteinsatz werden so unterschiedliche atmosphärische Stimmungen erschaffen, die die mysteriösen Gemütslagen der Identitätskonflikte einer postpubertären Gesellschaft auch sinnlich erfahrbar machen.
Birgit Schmalmack vom 24.4.12