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Lange Nacht der Autoren
Ein würdiger Abschluss sollte die letzte Lange Nacht der Autoren im Thalia vor Khuons Weggang werden. Deshalb ließ man dieses Mal die Stücke von schon arrivierten Autoren als Auftragsarbeiten extra für diesen Anlass schreiben. Den Anfang machte Anja Hilling, die mit „Protection“ vor zwei Jahren den Wettbewerb gewonnen hatte. „Radio Rhapsodie“ spielt auf einer paradiesischen Insel, auf der sich eine psychiatrische Anstalt befindet. Die Insassen erreicht die Nachricht, dass in Kürze die Insel von einem Erdbeben vernichtet werden wird. Nur noch wenige Stunden sind ihnen bis zu ihrem Tod vergönnt. Der lokale Radiosender gibt dazu den Ton an und untermalt mit altbekannten Songs die Stimmung der Todgeweihten. Vier Paare schälen sich aus den vielen Sonnenanbetern, die in Liegestühlen ihre Tage verbringen, heraus. Psychomaus und Hirsch Amor haben als gemeinsame Moderatoren des Senders zu einem späten Liebesglück gefunden. Die Meerfrau Suzannah wagt angesichts des Todes eine zaghafte Annäherung mit dem Treibtäter Detlef. Die hundertjährige Diva Ava wird von ihrem jugendlichen Liebhaber und Verehrer über die Insel verfolgt. Skurille Gestalten bevölkern die Insel. Zwischen den jungen Körpern unter den Sonnenschirmen wirken sie wie Widergänger aus dem dunklen Reich der Seele und verkörpern die Ebene unterhalb der sauberen, schicken Oberfläche. Der neue Text von Hilling blieb hinter ihren früheren in Wortgewalt und Beziehungsanalyse etwas zurück, doch die fantasievolle Umsetzung durch Kriegenburg polsterte die Lücken geschickt auf.
Eine Szenencollage war auch der zweite Text von Lukas Bärfuss. „Amygdala“ als Nervenzentrum für die emotionale Bewertung von Geschehnisse und Handlungen im menschlichen Gehirn gab ihm den Titel. Denn um Stresssituationen, die zu Bewertungen herausfordert – sowohl die handelnden als auch die Zuschauer – ging es in dem neuen Stück des Autors von „Der Bus“. Mal unternimmt ein Wissenschaftler ein Experiment mit zwei Arbeitslosen. Mal wollen diese eine Drogendealerin um ihr Geld bringen. Mal berichtet eine Ehefrau ihrer Therapeutin von ihrer Begegnung mit einem Urtier, das sie in Erregung versetzte. Mal muss sich eine Prostituierte den Wünschen eines seltsamen Freiers stellen. Mit ausgesprochen viel Sinn für die komischen Momente in diesen alptaumartigen Situationen hat Stephan Kimmig den auch sprachlich interessanten Text in Szene gesetzt.
Im Unterhaltungseffekt übertraf ihn noch die letzte Aufführung des Abends: JFK, den Pollesch für die drei Schauspieler Judith Hofmann, Felix Knopp und Katrin Wichmann geschrieben und inszeniert hatte. In diesem Projekt widmet er sich dem Leben in Selbstwidersprüchen on Schauspielern. Sie schöpfen ihre Erfahrungen aus der Vorstellung in Vorstellungen, agieren aus der Logik eines Manuskriptes, arbeiten mit einer Nichtwirklichkeit, die auf der Bühne zu einer vorgestellten Realität wird. Sie fassen sich mit Sätzen an, die nicht die ihren sind. Sie befinden sich stets auf der Metaebene und müssen doch die Illusion von Wirklichkeit im Zuschauer erzeugen. Dazu hatte die Bühnenbildnerin Janina Audick hinter der Kulissenwand eines Schlafzimmers eine Garderobensituation aufgebaut, die nur durch Digitalkameras für die Zuschauer sichtbar wurde. Extra für diese Arbeit erweiterte Pollesch seine Ausdrucksmittel um ein weiteres: Felix Knopp bekam einen wendigen Mikroträger an die Seite und durfte singend das Bühnengeschehen kommentieren und dirigieren. Eine höchst vergnügliche und intelligente Text, den Pollesch hier zum würdigen Ausklang der Langen Nacht mit den auserwählten Thalia-Größen hinlegte.
Birgit Schmalmack vom 16.5.09