Starke Bildersprache

Grandpa Puss, Lessingtage Foto: Kurt Van der Elst


Sebastian Bachs Johannis-Passion handelt von Sünde, Buße und Erlösung. Ihre Klänge fallen in die Stille nach dem Verlöschen des Lichts im Zuschauerraum wie eine allumfassende Überwältigung. Zusammen mit den abgehackten, schnellen Tanzbewegungen des ganz in schwarz gekleideten Mannes mit seinem weiten Flügelkleid umfängt eine Gefühlskaskade aus Erregung, Schmerz, Aufruhr und Furcht die Zuschauenden. Dann kommen immer mehr Menschen auf die Bühne und werden von einem Priester um den in der Mitte stehenden schwarzen Kubus getrieben. Auch viele Kinder sind darunter. Das ist ein völlig vereinnahmender Anfang von "Grandpa Puss; or how God disappeared", der mit seiner starken Bildersprache sofort direkt ins Thema hineinführt.
Am Rande der Szenerie sitzt ein schwerer Mann mit grauem Bart neben einem Kind in einem weiten, weißen Kleid. Das Mädchen will den Großvater zu seinen Erlebnissen mit einem Geistlichen in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg befragen. Nur zögerlich fängt dieser an zu berichten. Es wird deutlich: Eines der Kinder, die in der Mitte um den Kubus rasen, ist er selbst. Zum Schluss bleibt er alleine mit dem Priester zurück, der sich ihm langsam aber bestimmt annähert.
Doch bei dieser Einzelerfahrung bleibt die junge Regisseurin Lisaboa Houbrechts nicht stehen. Sie interessiert die transgenerationelle Weitergabe dieser Gewalterfahrungen, selbst wenn sie nicht thematisiert werden sollten. So spürt sie den Spuren dieser Missbrauchstraumata in den folgenden Generationen bis hin zur Enkeltochter nach. Sie streift dabei auch die Anfälligkeit des Großvaters, sich den in Belgien einfallenden Deutschen anzuschließen, da die Nazis alle Geistlichen aus dem Amt jagten.
Doch der schwarze geschlossene Kubus öffnet sich im Laufe des Abends. Sein Inneres ist strahlend weiß. Hier kommt es zu einer weiteren Missbrauchsszene, zwischen dem Großvater und der Enkelin, aus der jedoch das Mädchen aussteigt. Sie findet die Kraft zum Widerstand, zum Aufbegehren und zum Jetzterstrecht! Sie steigt zum schwarz gewandeten Tänzer auf das Tableau vor dem Kubus und tanzt mit ihm zusammen einen Tanz der Befreiung und dem Recht auf Lebensfreude.
So zeigt Houbrechts, dass im Erinnern, im Reden, im Konfrontieren, im Aufarbeiten auch eine Chance auf Durchbrechung der transgenerationellen Weitergabe von Traumata liegt. Die Opfer müssen nicht in ihrer Ohnmacht verharren. Dazu benutzt sie eine schier überwältigende Fülle an Stil- und Theatermitteln. Die Kombination aus Tanz, Oper, Schauspiel, Körpertheater, Musik und Bühnenbild erschlagen fast bei ihrem Versuch, dieses komplexe Thema auf die Bühne zu bringen. So schlachtet sie keineswegs den Schmerz dieser traumatischen Erlebnisse aus, sondern kanalisiert sie in eine überbordende Fülle an Ausdrucksformen. Das ist auch dringend geboten, denn Houbrechts lässt die jugendlichen Rollen von Kindern spielen. Eine Gratwanderung, die wohl ausbalanciert sein will, um keine Schäden zu hinterlassen. So steht immer das Ausbrechen, das Aufbegehren und die Lust am Leben im Fokus dieses sehenswerten Gastspiels von laGeste aus dem belgischen Gent.
Birgit Schmalmack vom 14.2.24

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