Im Karussell des Lebens

Warum das Kind in der Polenta kocht Foto: Jan Bosch



Wir sind hier nicht im Zirkus, das hört Aglaja nach ihrem Vorspiel, als sie sich als junge Frau an einer Schauspielschule bewirbt. Doch bei Nino Haratischwillis Inszenierung des Romans von Aglaja Veteranyi "Warum das Kind in der Polenta kocht" für das Hessische Landestheater Marburg ist genau das der Fall. Sie steht ganz unter dem Zeichen der zirzensischen Stilmittel. Auf der Bühne steht ein Drehkarussell mit vier kleinen Kabinen, in denen die verschiedenen Orte von Aglajas Leben zu sehen sind. Alles wirkt sehr heruntergekommen und trashig. Die sechs grell geschminkten und gekleideten Schauspielerinnen, die allesamt in die verschiedenen Rollen hineinspringen, agieren überdeutlich und mit großer Geste. Das gibt ihnen auch die Möglichkeit der Distanz zu den Geschehnissen, von denen hier berichtet wird. Und die ist nötig. Denn sie haben es in sich. Aglajas Leben ist eines, das von Angst, Heimatlosigkeit, Einsamkeit, Verlust, Gewalt und Missbrauch gekennzeichnet ist. Sie berichtet davon aus ihrer kindlichen Sicht, ganz aus ihrer damals noch beschränkten Perspektive.
Ihre Eltern fliehen aus dem Rumänien des Diktators Nicolae Ceaucescu, sie gehen mit ihren Kindern in die Schweiz. Sie arbeiten als Artisten, der Vater als Clown, die Mutter als "Frau, die an den Haaren hängt". Weil Aglaja in ständiger Angst lebt, dass ihre Mutter abstürzen könnte, erzählt ihr ihre größere Halbschwester bei jedem Auftritt die Geschichte von dem Kind, das in der Polenta kocht. Während Aglaja sich die Qualen des Kindes vorstellt, muss sie nicht so oft an die Todesgefahr für ihre Mutter denken. So weit der Plan.
Das Besondere an dieser Aufführung ist ihre Bilingualität. Denn es ist eine Zusammenarbeit zwischen georgischen und deutschen Schauspielerinnen. Die zwei Sprachen wechseln ständig und fließen dabei wie selbstverständlich ineinander. Die Übersetzungen des Georgischen laufen zwar an den Seiten mit, aber der Zusammenhang wird häufig auch ohne sie verständlich. Und dennoch wird die Verlorenheit in einer neuen, unverständlichen Sprache, die jeden Heimatflüchtling begleitet, deutlich.
Nachdem sich die Mutter vom gewalttätigen und alkoholkranken Vater getrennt hat, tingelt sie mit der mittlerweile jugendlichen Aglaja durch die Varietés, weil sie selbst nicht mehr arbeiten kann. So wie der Vater sich auch schon an der älteren Schwester vergriffen hat, so erlebt jetzt Aglaja selbst den Missbrauch durch ihre jeweiligen Arbeitgeber.
All das wird in grell ausgemalten Szenen mit dem stetigen Hang zur Überzeichnung erzählt, während sich das Karussell des Lebens für Aglaja ständig weiterdreht, ohne dass sie selbst einen Einfluss darauf haben könnte. Sie ist als Kind die Getriebene, die von den Erwachsenen benutzt wird, ohne dass es ihr zunächst bewusst ist. Sie wird selbst von der einzigen Person, die ihr Halt und so etwas wie Heimat gibt, letztendlich verkauft. Die Stilmittel, die Haratischwilli für ihre Arbeit gebraucht, sind schlüssig, aber lassen wenig Raum für die leisen Töne. Rührung und Nachdenklichkeit kommen während der Vorstellung kaum auf. Das Karussell dreht sich immer weiter, Aglaja muss mit. Der Schrecken des Gesehenen breitet sich erst aus, nachdem das Karussell zum Stehen gekommen ist.
Birgit Schmalmack vom 10.02.24

Zur Kritik von