Ein wahrhaft Liebender

Cyrano de Bergerac Oliver Fantitsch

Wie sieht wahre Liebe aus? Cyrano scheint ein wahrhaft Liebender zu sein, so viel ist am Ende klar: Um seiner geliebten Roxane seine Liebe gestehen zu können, geht er Risiken ein und ist selbstlos bis an die Grenzen der Selbstverleugnung. So stellt er Christian, der sich seinerseits in die Schöne verliebt hat, seine poetischen Fähigkeiten zur Verfügung. Hunderte von Liebesbriefen schreibt er an die Frau seiner Träume, von denen er weiß, dass sie niemals Realität werden können, denn er sieht sich von Hässlichkeit gezeichnet. Mitten in seinem Gesicht trägt er eine übergroße Nase, die ihn auf Frauen wenig anziehend wirken lässt. Dennoch hat er auf anderen Feldern große Reputation. In Poetry Slams sticht er alle aus, auch in Reimduellen gewinnt er stets. Und seine Kameraden in seinem Regiment halten große Stücke auf ihn. Da Christian arm an schönen Worten ist und lieber gleich zur Sache schreiten möchte, lässt er sich schließlich auf die Aufgabenverteilung ein und das Liebes-Dreier-Spiel beginnt. Cyrano liebt und schreibt, Christian liebt und küsst, Roxane liebt den Körper des Attraktiven und die Verse des Poeten. Gerade als Christian zu ahnen beginnt, dass diese Gaukelei Roxanes Enttäuschung über seine eigene Plattheit nur vergrößern wird, fällt er in einem Gefecht.
Erst 15 Jahre später erfährt Roxane, wer der Verfasser ihrer Briefe ist. Sie ist wütend auf Cyrano und vielleicht auch auf sich selbst, dass sie sich hat blenden lassen und den wahrhaft Liebenden nicht erkannt hat. Aber nun ist es für eine Annäherung zu spät: Cyrano hat sich nur enttarnt, weil er schwer verletzt wusste, dass er sterben wird.
Martin Crimps hat durch seine Neufassung des bekannten Stoffes "Cyrano de Bergerac" von Edmond Rostand jeden Staub des 17. Jahrhunderts abgepustet. Diese Leute auf der Bühne könnten von heute sein. In jedem derzeitigen Diskurs bewandert, reden sie von kultureller Aneignung, wenn sie von französischer Backkunst sprechen, wissen um Genderfluidität, wenn sie Zuschauer beschreiben wollen, und sprechen von radikalem Outing, wenn es um Cyranos Nase geht. Roxane ist eine Studentin, die auf ihrer emanzipierten Selbstständigkeit besteht. Großstadtslang mischt sich immer wieder unter die Reime der coolen Soldatencrew und die Jungpoetinnen, die bei Madame die Verskunst erlernen wollen, sind in diesem Fall Männer mit Highheels, bunten Perücken und Lippenstift. Auf der leeren Bühne vor der rostigen Wand (Bühne: Nadin Schumacher) kann sich das alles abspielen, mit wenigen zusammen gewürfelten Stühlen ist die jeweilige Bühnensituation schnell skizziert. Regisseur Harald Weiler macht aus dem Stoff eine frische Neuinszenierung, die unverkrampft und direkt die Fragen nach äußerem Schein und inneren Werten, nach Körper und Geist, nach Wahrheit und Schein stellt. Grunderneuert und nun umso sehenswerter. Mit einem grandiosen Ensemble (Yves Dudziak, Lina Hoppe, Rune Jürgensen, Leander Lichti, Stefan Schießleder, Julia Weden) und allen voran Boris Aljinovic als sympathischem, grundehrlichem, unprätentiösem Cyrano. Diesen Mann muss frau eigentlich lieben. Doch nur seinem Puppen-Alter-Ego ist zum Schluss vergönnt, einen melancholischen Liebessong zu singen. Kein Happy End für diesen wahrhaft Liebenden.
Birgit Schmalmack vom 1.1.24

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NDR 
mopo