Spannende Arbeiten

Fick den Staat, ich liebe dich HfTM

Sechs Stückentwicklungen sind auf dem Campus der Hochschule für Musik und Theater zu sehen. Vier davon am Ende des Dezember 2023 und zwei weitere im Januar 2024.
Die pure Lust am Geschichtenerzählen treibt die drei Performenden (Nils Hohenhövel, Elias Reichert, Franziska Wachs) in "Glimmer" von Till Dogan Ertener auf der leeren Bühne zu immer neuen Kapriolen. In ihren rein weißen Outfits können sie alles sein, alles erfinden, alles erzählen. Sie springen in immer wieder neue Storys und unterbrechen sich doch dabei ständig in ihrer Lust an der Neu-Erfindung ihrer selbst, die ihres Gegenübers und die ihrer Entwicklung. Das ist ganz große Kunst im Fabulieren, im Spiel ohne doppelten Boden, im sich Neuerfinden, im Laufenlassen der Fantasie, der großen Möglichkeiten, alles und jedes zu sein, hier auf der Bühne eines Theaters.
Die große Frage sei doch: In welcher Beziehung stehen wir Menschen zum wilden Tier? Stellvertretend für sie befragen sich die drei Darsteller:innen in "Nur das Stück und ich" zu ihrem eigenen Verhältnis, zum wilden, zum gezüchteten, zum gezähmten, zum gejagten Tier. Da jagen sie sich gegenseitig mit Spritzpistolen, da ziehen sie eine von ihnen als Kalbgeburt aus einem der Wasserkanister, da versetzen sie sich sowohl in das gejagte Wild als auch in den Jäger. Diese Arbeit von Olivia Müller-Elmau erlaubt sich, sehr im Assoziativen, im Experimentellen und im Bruchstückhaften zu bleiben.
Leider könnte Ikarus nicht kommen, verrät der Bühnenarbeiter zu Beginn von "Versuche über den Untergang" von Tamara Sonja Aijanmathiesen. Er hätte sich zu sehr über seine Rolle als Depp aufgeregt. Nie im Leben wäre er so dumm, mit Wachsflügeln zur Sonne zu fliegen. So müssen andere an seiner Stelle befragt werden. Denn es geht hier in dieser Arbeit um Interviews mit Toten, die viel wagten - vielleicht zu viel - für ihren eigenen Erkenntnisdrang und für den Fortschritt der Menschheit. Viele berühmte Leute haben sich die Drei auf der Bühne vorgeknöpft, um mehr zu erfahren von diesen besonderen Menschen, die auch angesichts des Risikos des eigenen Sterbens sich weiter voran wagten als die meisten anderen ihrer Zeitgenossen, die sich mit weniger zufriedengaben. Viele Männer und wenige Frauen sind unter ihnen. Drei tolle Schauspieler:innen (Charlotte Wollrad, Jasmin Gloor, Feli Reitberger) stehen da in ihren ballonförmigen Outfits unter dem Fallbeil eines herabstürzenden Scheinwerfers oder unter dem eines Bühnenzuges mit Neonröhren, der sie niederdrückt oder kurz vor dem endgültigen Fall noch einmal heraufziehen kann. Eine ausgereifte, spannende Arbeit, die nicht nur inhaltlich, sondern auch darstellerisch viel bereithielt.
Woher kommt eigentlich dieses unglaublich bestimmende Bild des Traumes von einer Hochzeit in Weiß? Dabei sollten doch eigentlich heutzutage diese patriarchalen und heteronormativen Rollenbilder lange überwunden worden sein. In "Fick den Staat, ich liebe dich" fragen sich dies auf einem Kinderspielplatz vier Mädchen, nein, eigentlich vier junge Frauen in den Rüschenoutfits von vier kleinen Mädchen, mit Zöpfen, Hauben und weißen Strümpfen. Nun ergründen sie gemeinsam, warum diese Bilder sie immer noch prägen. Diese Bilder vom Erretter auf dem weißen Pferd, einer romantischen, züchtigen Annäherung auf einer Party, der großen, einmaligen Liebe und der Gründung einer Bilderbuch-Familie? Was wäre vielleicht alles möglich gewesen, wenn sie andere Bilder im Kopf gehabt hätten? Wäre dann auch der erste Kuss mit einem Mädchen möglich gewesen? Hätte dann ihre Entwicklung auch eine andere sein können? Ohne diese frühe Weichenstellung, die manche Pfade ganz unmöglich scheinen ließ? Vielleicht könnte dann das Happy End auch ganz anders aussehen? Der große Auftritt im Partykleid nur für sich alleine? Mit einer Familie aus Wunschfreundinnen? Diese letzte Arbeit von Juno Peter mit Sonja Glade, Fiona Köhn, Marie-Luise Kuntze, Pia Mewes und Antonia Sandrock überzeugte in jeder Hinsicht: sowohl durch den Text, das Bühnenbild, das Schauspiel als auch durch die Regie, die konsequent den selbst gestellten Fragestellungen nachging und bei all den darstellerischen Ideen nie den roten Faden verlor.
Birgit Schmalmack vom 27.12.23