Von der Kunst nach oben zu fallen

Die Sorglosschlafenden, die Frischaufgeblühten © Matthias Horn


Vor dem Nach-Oben-Fallen bewahre einen nur die Schwerkraft. Doch die scheint bei Christoph Marthaler durchaus ab und zu aufgehoben. Trotz aller Schwermut und Lebensüberdrüssigkeit, die der Regisseur bei " Die Sorglosschlafenden, die Frischaufgeblühten" mit der B-Seite von Hölderlins Texten zum Ausdruck bringt, gelingt Marthaler eine Schwebezustand zwischen Verzweiflung und Komik. Dabei bröckelt die Kunst, die hier eigentlich die Hoffnung bringen soll, ganz schön. Ebenso brechen nach und nach fast alle Möbelstücke, die auf der Bühne den vier Schauspieler:innen (Josefine Israel, Sasha Rau, Lars Rudolph, Samuel Weiss ) und den zwei Musikern Ruheplätze bieten, auseinander. Auch die Musikinstrumente sind nicht davon verschont. Der Müllhaufen in der Ecke, in dem unberirrt der Cellist Martin Zeller seine wunderschön zarte Musik produziert, zeugt davon. Der Pianist Bendix Dethleffsen wechselt schon mal sein Tasteninstrument, wenn sein Klavierstuhl plötzlich keine Füße mehr hat. Denn "Die holde Kunst", auf die mit Schubert ein Loblied gesungen wird, versucht sich trotz der widrigen Umstände zu behaupten. Auch wenn sie manchmal nur als fernes Echo von weit her zu vernehmen ist und man das Ohr auf die Betonwände legen muss, um sie deutlicher zu hören. Ansonsten tauchen sie gerne ab in ihre Tubakästen und lassen von dort aus die Texte Hölderlins erklingen. Von ihnen sieht man dann nur noch ihre Beine und ab und zu ein verschmitztes Lächeln, wenn sie kurz ihren Kopf über das Schwarz des Behältnisses heruasheben.
Überhaupt ist der Malersaal der perfekte Ort für Hölderlins eingeschlossenen "Vögel der Nacht". Ohne großes Bühnenbild bebildert er den Kunstbunker, in den sich die Sechs hier gegen den Rest der Welt zurückziehen, aufs Beste. Hier sind diese schrägen Vögel mit allem Notwendigen versorgt: Hängen doch ein Körnerfutter- und Wasserspender und ein Wetzstein, alles in XXL, hoch oben an der Wand.
Wie aus der Zeit gefallen und dennoch zeitlos wirkt dieser Abend. Die Kombination aus den Darstellenden in ihren braunen, floralen 70-ziger Jahre Outfits, den depressiven Versen Hölderlins, der dezenten, harmonischen klassischen Musik und der Schwermütigkeit der Menschen passt gut ins Heute. Dieser Abend ist auch deswegen wie gemacht für diese Zeit, weil er es trotz der wehmütigen Grundstimmung versteht, ein Loblied auf die live erlebbare Kunst zu intonieren.
"Da wo die Nüchternheit dich verlässt, da ist die Grenze deiner Begeisterung" ist das Credo dieses Abends. Erst wer sich über die Grenze der Schwerkraft hinausheben lässt, erhält so etwas wie Hoffnung und Ausblick. Erst wer die Grenze der Begeisterung durch die Kunst überschreitet, landet in der Welt der Emotionen und des Humors, die über die ernüchternde Realität hinausweist.

Birgit Schmalmack vom 31.1.22

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