Der Held kehrt heim


Ein Kinderzimmer steht wie in einem zu den Längsseiten offenen Schuhkarton in der Mitte zwischen den beiden Zuschauertribünen. Mit Bildern von Wildtieren an den Wänden, mit fluoreszierenden Sternen auf der Löwentapete, mit einem Spielteppich auf dem Boden und je einem Schaukelpferd neben den zwei Kinderbetten. Doch es scheint ein Orkan der Verwüstung durch das Zimmer getobt zu haben. Die Matratzen sind aus den Betten gehoben, die Bettwäsche liegt auf dem Boden, die Pferde auf ihren Seiten. Der Vater ist nach langer Abwesenheit zurückgekehrt, doch sein Heim ist anscheinend nicht mehr das, was es einmal war. Dabei hat er sich so wacker geschlagen. Er hat alle Aufgaben, die ihm gestellt wurden, heroisch absolviert und will jetzt die verdiente Belohnung und Ruhe genießen.
Schlug er sich außerhalb des Kinderzimmers äußerst tapfer, stellte sich allen Gegnern ohne Furcht und mit ungeheurer Kraft entgegen und meisterte alle 12 Aufgaben, die ihm das Leben (oder die Götter) stellte mit Bravour, so sieht er sich hier, in seinem Zuhause, neuen Herausforderungen gegenüber, die er nicht erwartet hat. Die Geister der Vergangenheit suchen ihn unerwartet heim, dann kann er sich in dem Kinderzimmer nur auf den Boden werfen und sich den auf ihn hereinstürmenden Erinnerungen nicht erwehren. Die Erwartungen, die an ihn gerichtet werden, nun auch auf heimatlichen Terrain allen Gegnern zu trotzen, sieht er sich nicht mehr gewachsen. Schien er draußen der Superheld zu sein, so schrumpft er zuhause zu einem Wesen, das seinerseits Schutz und Geborgenheit braucht, aber das nicht zugeben mag. So würde Herakles zwar seiner Frau, seinen Kindern und seinem Vater gerne das geben, was sie sich von ihm erhoffen, sieht sich aber dazu außerstande. Er merkt, er kann nur eines: rohe Gewalt ausüben. Das hat er draußen trainiert. So ermordet er erst seinen Widersacher Lykos und anschließend im Wahn seine eigenen Kinder und seine Frau.
Weiterleben danach, wie soll das gehen? Mit dieser Schuld, mit dieser Verantwortung seine Liebsten gemordet zu haben? Doch sich davonstehlen durch einen Selbstmord, ist das nicht die nochgrößere Schande? Herakles Freund Theseus versucht ihm einen Ausweg zu zeigen und nimmt ihn mit für einen Neuanfang von Theben nach Athen.
Dieser zwiegespaltene Herakles, dieser gebrochene Held, steht im Mittelpunkt von Lucia Wunschs Abschlussinszenierung auf Kampnagel "Herakles nach Euripides". Der Clash zwischen antikem Dramentext und heutiger Kinderzimmerästhetik überrascht zunächst. Die ungewohnte Besetzung des Herakles mit dem zarten, feingliedrigen Alex Junge, der aber so gar nichts von einem muskelbepackten Superhero hat, ebenso. Dieser Hipster-Softie spielt augenscheinlich lieber mit Luftballons als mit dem Speer und der Keule, mag er auch noch so sehr den siegesgewissen Kämpfer mimen. Eigentlich nimmt man es ihm nicht ab. So stellt das Team um Wunsch das Heroentum von heute und damals in Frage. Jede Mordtat hat ihren Preis, mag die äußere Schale auch noch so hart erscheinen, im Inneren bleiben Verletzungen zurück. Sie werden sich ihren Weg an die Oberfläche suchen. Die Botschaft ist einleuchtend, doch die Stilmittel, die hier gewählt werden, erschweren das Einfühlen. Anleihen an Krimis mit Verfolgungsjagden und klappenden Türen, an Comics durch den Senioren-Chor aus lauter Marvel-Superheros und an heutige Reality-Serien durch das Bühnenbild kontrastieren mit der höchst verschlungenen antiken Götterstory um Herakles. Auf die Ebene eines Kinderzimmers heruntergebrochen, können viele Aspekte des vielschichtigen Dramas nur angerissen bleiben. Zu kleinbürgerlich und konkret erscheint das Bühnenbild, als das es zusammen mit den vier Figuren am Rand, die mal Erzähler und mal Mitspieler sind, der Komplexität der psychologischen und mythologischen Fragen gerecht werden kann. Um diese Balance zwischen Ernst und Überzeichnung zu meistern, hätte es tatsächlich noch größerer Superhero-Kräfte bedurft.
Birgit Schmalmack vom 17.02.24