Kampf gegen die Uhr

Heilig Abend, St-Pauli-Theater.de Kerstin Schomburg


Ein Kammerspiel für zwei Schauspieler und eine Uhr, so nennt Daniel Kehlmann sein Stück "Heilig Abend". Während die Uhr auf der Bühne tickt, läuft auch die Zeit im Stück. Eine Frau (Barbara Auer) wurde festgesetzt. In einem kahlen Raum mit verspiegelten Seitenflächen wird sie von einem Unbekannten (von Bülow) eines Verhörs unterzogen. Er scheint alles von ihr zu wissen. Wer gestern Abend bei ihr zu Besuch war, wie lange er blieb, wen sie heute besuchen fahren will, wie oft sie ihre Eltern bei Auslandaufenthalten angerufen hat, welche Dateien sich auf ihrem privaten PC befinden. Er scheint sogar in ihre Gedanken blicken zu können, verdächtigt er sie doch, im Geheimen an einem Plan zum Umsturz dieses Systems zu arbeiten, obwohl sie derweil als Professorin einer staatlichen Hochschule Teil dieses System ist. Um halb elf abends erfolgte der Zugriff. Eineinhalb Stunden bleiben dem Polizisten bis zur vermeintlich von ihr geplanten Bombenexplosion um Mitternacht an einem Heilig Abend, an dem die meisten zu Hause unterm Weihnachtsbaum sitzen.
Die Frau Professorin elegant und eloquent, in Schleifenbluse zu schwarzem Mantel, glaubt sich zunächst auf der sicheren Seite. Ihre bürgerliche Fassade wird sie vor Drangsalierungen durch den Polizisten schützen. Wir leben doch in einem Rechtstaat, beteuert sie immer wieder. Doch der Polizist ist unter Erfolgsdruck. Hat er doch die Professorin an einem Feiertag in diesen Verhörraum abführen lassen. Nun muss er liefern. Haben er und seine Kollegen den richtigen Riecher gehabt, als sie auf ihrem PC die verdächtige Datei mit den Anschlagsplänen entdeckten? Lassen sie sie vorschnell wieder frei und eine Bombe explodiert, haben sie ein Problem. Allerdings auch, wenn sie sie unschuldig festhalten. Also droht der Polizist damit, nicht nur verbale Daumenschrauben anzusetzen.
Ein heftiger Schlagabtausch beginnt, der auch die intimen Bereiche nicht auslässt. Hinter dieser Beziehungsgeschichte steht eine weitere: die unerfüllte Liebesgeschichte zwischen der Frau und ihrem Ex-Mann, der im Nebenzimmer verhört wird. Einer von beiden soll den anderen verraten, um sich selbst frei zu bekommen. Wer wird es sein? Wird einer sogar die Unwahrheit behaupten, nur um freizukommen?
Bis zum Schluss bleibt unklar, ob es eine Bombe gibt oder nicht. Das Stück spielt auf mehreren Ebenen: Auf der ersten ist ein Dialog-Krimi. Auf der zweiten geht es um den Kampf zwischen den Klassen, zwischen Arm und Reich, zwischen Elite und Arbeitern. Wer ist berechtigt zum Aufbegehren? Nur die Unterdrückten oder auch die Eliten? Wie glaubwürdig ist eine Frau Professorin, die sich eine Revolution wünscht? Die dritte Ebene ist die Frage nach der Standhaftigkeit von Menschen, die unter diesen Druck geraten. Wie belastbar können Liebe und Vertrauen sein, die zwei sich schwören?
Die drei Ebenen vermengt Kehlmann zu einem Kammerspiel, das einem Thriller gleicht. Durch das intensive und glaubwürdige Spiel der beiden Hauptdarsteller:innen wird die Inszenierung von Ulrich Waller am St-Pauli-Theater zu einem spannenden Theaterabend. Das wohltuend offene Ende sorgt für Stoff zum Weiterdenken.
Birgit Schmalmack vom 26.11.23