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Salome, Staatsoper Hamburg

Nirgends ein Mensch


Eine gutbürgerliche Abendgesellschaft trifft sich in einer prunkvollen Altbauvilla. Die Gäste sind in glitzernder, extravaganter Kostümierung angekommen und sitzen gesittet an der langen Tafel im Salon mit den weit geöffneten Türen zum Garten. Hier ist alles wunderschön und sogar ein bisschen divers. Auch zwei schwarze Gesichter, ein Mann im Rock und einer mit Glitzerturban dürfen unter den Gästen sein. Der Hausherr selbst gefällt sich in einem geblümten Anzug zu Schmalzlocke. Seine Frau, die zuvor noch seine Schwägerin war, trägt ein funkelndes Diadem wie eine Krone auf dem Kopf. An diesem Abend wird kein Blut zu sehen sein, obwohl Gewalt ausgeübt wird. Doch sie bleibt hinter der feien Fassade verborgen.

Doch am Tischende der Tafel sitzt ein Mensch, der so gar nicht in diese Abendgesellschaft zu passen scheint, mit dem Rücken zum Publikum. Er ist ein Außenseiter, obwohl er dem Hausherrn genau gegenübersitzt. Es ist der Prophet Jochanaan (Kyle Ketelsen). In der Inszenierung von Regisseur Dimitri Tcherniakov an der Staatsoper Hamburg haust er nicht wie im Original in einer Gruft, sondern sitzt mit am Tisch. Denn er ist eh gegenwärtig, weil die Diskussion um ihn hier das komplette Tischgespräch bestimmt. Ganz besonders nachdem die Tochter Salome hereingestürmt kommt. Viel zu spät und völlig unpassend gekleidet. In T-Shirt zu langem Rock mit Turnschuhen platzt sie in die Gesellschaft, den dicken wattierten Steppmantel über die Schulter geworfen. Sie erwartet offensichtlich einen langweiligen Abend und ist sofort fasziniert, als sie den unerwarteten Gast am Tischende sieht. Salome ist eine junge Frau, die in grenzenlosem Reichtum aufgewachsen ist. Zudem in einer Patchworkfamilie, die es nach den damaligen moralischen Vorstellungen nicht hätte geben dürfen. Ihre Mutter hat ihren Onkel geheiratet. Nachvollziehbare Wertvorstellungen, eine Leerstelle in ihrem Leben, keiner hat sie ihr vorgelebt. Außerdem liebt ihr Onkel sie wohl ein wenig zu sehr. Bilder von sexuellen Missbrauch tauchen sofort vor dem inneren Auge auf, wenn der Onkel um seine Stieftochter herumscharwenzelt. Sie schwankt zwischen Ekel und strategischem Ausnutzen.

Doch nun sitzt da dieser Mann in Jeans, Tweedsakko, Brille und streng gescheiteltem Haar und redet von Gott, Heiligtum, Ehre und Sünde. Er hat was zu sagen, auch wenn sie es nicht versteht. Ein Gegenüber, das an etwas zu glauben scheint. Sie flirtet ihn an, ganz so wie sie es gewohnt ist. Doch er weist sie entrüstet und angewidert ab. Sie wirft sich ihm zu Füßen, doch er schubst sie weg. Sie ist zutiefst getroffen. Zurückgestoßen, abgewiesen zu werden, das kennt sie nicht. Das stachelt ihre Sehnsucht nach einem Menschen, den sie respektieren kann, umso mehr an.

Als ihr Onkel sie um einen Tanz nur für ihn bittet und ihr dafür die Erfüllung eines Wunsches verspricht, wittert sie ihre Chance und geht darauf ein. Sie stellt sich in hautfarbener Unterwäsche vor ihn hin und setzt sich auf seinen Schoß. Die Gesellschaft schaut zu, keiner schreitet ein, obwohl ganz deutlich ist, was hier passiert. Nach seiner Befriedigung erwartet der Onkel ihren Wunsch. Doch Salome will keine Juwelen, keine Fasanen, keine materiellen Güter, sondern Jochanaans Kopf. Zuerst weigert sich der Onkel, doch schließlich gibt er nach.

Amber Braid sprang an diesem Abend für die erkrankte Asmik Grigorian als Salome ein. Sie war ein würdiger Ersatz. Sie spielte glaubwürdig an der Nahtstelle zwischen verwöhntem Mädchen und reifer, sexuell begehrender Frau. John Daszak als ihr Onkel überzeugte in seiner Rolle als schmieriger, selbstgefälliger Gockel, der sich einfach nimmt, was ihm gefällt. Violetta Urmana gibt überzeugend ihre gefühlskalte, berechnende Mutter, die nur an sich denkt. Sie glaubt bis zum Schluss, dass ihre Tochter den Kopf als Revanche für Jochanaans Kritik an ihr verlangen würde. Doch die Beziehungen zwischen Mutter und Tochter ist schon lange zerrüttet. Hatte die Mutter doch tatenlos zugesehen, wie der Onkel sich an der Tochter vergriff, ohne sie zu schützen.

In Salomes Schlussmonolog ist sie mit Jochanaan alleine am Tisch. Sie hat ihren Willen bekommen, doch ihre eigentlichen Wünsche bleiben unbefriedigt. Der Begehrte ist tot, sie kann ihn zwar küssen, doch ihre Sehnsucht bleibt unerfüllt. Sie wollte einen Menschen, der nicht so vordergründig ist wie alle um sie herum. Sie wollte Liebe, die wirklich ihr gilt. Natürlich konnte sie all das von Jochanaan nicht bekommen. Das erkennt sie am Schluss. Der einzige Mensch mit Prinzipien ist nun tot. Selbst der Onkel ahnt, dass jetzt Schreckliches passieren könnte. Das Fehlen jedweder Werte und Richtlinien könnte sich rächen. Ihr Onkel beschließt Salomes Tod, doch der kann ihr nichts mehr anhaben, sie ist bereits innerlich gestorben und sinkt auf der Bühne zu Boden. Die klar fokussierte Inszenierung von Dimitri Tcherniakov begeistert das Hamburger Publikum. Für alle Beteiligten gab es jubelnden Applaus, auch für die eingesprungene Amber Braid.

Birgit Schmalmack vom 16.10.25

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