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Kinder der Sonne
Alles Illusion
Kinder der Sonne sind wir, behauptet der Wissenschaftler Pavel (Jens Harzer). Doch die Sonne, vor der er in seinem abgeschrabten Bürostuhl sitzt, ist nur mit dicken ungelenken Pinselstrichen auf die große Leinwandrolle gemalt. Außerhalb seiner wohl abgeschirmten Wissenschaftlerzelle tobt die Cholera. Er hofft immer noch mit seinen Algenkulturen eine bessere Zukunft zu erforschen. Würde er auch gerne seine Utopie der schöneren, vom Verstand gelenkten Welt erstehen sehen, so machen ihm die Unzulänglichkeiten seiner Mitmenschen jedoch schmerzlich bewusst: Alles Illusion! Seine Studien nützt ihm beim Verständnis seiner Mitmenschen, auf die er doch so große Hoffnungen der Weiterentwicklung setzt, nichts. Immer öfter muss es zugeben: „Ich verstehe nichts.“
Die kleinen Alltäglichkeiten bestimmen statt der großen Menschheitsfragen das Denken. Seine Frau Jelena (Oda Thormeyer), die er eigentlich liebt, fühlt sich von ihm mit Nichtachtung gestraft. In diese Lücke versucht sogleich der in die Schöne verliebte Künstler (Hans Kremer) zu stoßen. Doch er wird weiterhin der Freiheit seiner Kunst leben müssen: Jelena bleibt bei ihrem Mann. Dass Pavel ebenfalls eine heftige Verehrerin hatte, die verwitwete reiche Melanja (Marina Galic), versetzt ihn in großes Erstaunen und Hilflosigkeit. Seine Frau muss die Angelegenheit für den Lebensunpraktischen regeln. Pavels Schwester Lisa (Patrycia Ziolkowska) leidet unter epileptischen Anfällen. Lange Zeit gestattet sie sich keine Beziehung zu einem Mann. Als sie sich endlich dazu durchringt dem Misanthropen Boris (Andre Szymanski) erhören, ist es jedoch schon zu spät: Er hat sich bereits erhängt. Der eifersüchtige Patriarch Jegor (Josef Ostendorf) schlägt seine Frau (Lisa Hagemeister) aus lauter Besitz ergreifender Liebe. Auch das biedere Paar Olga (Christina Geiße) und Dimitri (Tilo Werner) ist von ihrem arbeits- und kinderreichen Leben enttäuscht: Ihre Erwartungen haben sich nicht erfüllt.
Maxim Gorki entwirft in „Kinder der Sonne“ ein Nachtasyl mit umgekehrten Vorzeichen. Hier sind es nicht die Ärmsten und von der Gesellschaft Ausgeschlossenen, die er beschreibt, sondern die Privilegierten. Er beleuchtet hier die Gedanken- und Lebenswelt der Akademiker, der Künstler, der Reichen. Doch die Bilanz ihres Lebensglücks fällt trotz besserer Startbedingungen nicht wesentlich positiver aus.
Im Gegensatz zum minimalistischen Bühnenbild werden die psychologischen Feinheiten der Personen sorgsam gezeichnet. Regisseur Luk Perseval kann sich dabei voll auf das exquisite Ensemble verlassen. Sie zaubern auf dem einfachen Brettergestell eine Lebenswelt, die interessiert. Wie viel beeindruckender hätte der Abend noch werden können, wenn die Regie mehr Bewegungsfreiheit und das Bühnenbild mehr Fantasieanreiz ermöglicht hätte.
Birgit Schmalmack vom 14.5.10