Marschlande, Thalia
Marschlande, Thalia
© Kerstin Schomburg
Den Anfang finden
Warum bin ich hier gelandet, fragt sich Britta, nachdem die Akademikerin mit ihrer vierköpfigen Familie von der Altbauwohnung mitten in der Stadt in die Marschlande gezogen ist. Hätte sie man lieber auf ihre Tochter gehört. „Alles öde hier“. sagte die bei der Besichtigung des Hauses mit den bodentiefen Fenstern und dem weiten Blick auf die leeren Felder. Doch Britta sagte nicht klar und deutlich Nein, sie bemüht sich lieber um den Familienfrieden. So ist die Entwicklung vorprogrammiert: Ihr Mann Philipp arbeitet noch mehr als vorher. Schließlich muss das teure Haus abbezahlt werden. Und er ist noch länger unterwegs, schließlich kommt der Fahrtweg nach Hamburg dazu. Britta dagegen ist nur mit dem Organisieren des Alltags für die zwei Kinder beschäftigt. Alles was in der Großstadt um die Ecke lag, muss jetzt mühsam herbeigeschafft werden. Beruflicher Wiedereinstieg? Rückt hier noch weiter in die Ferne. Vielleicht wenn die Kinder aus dem Haus sind?
Um nicht in der geistigen Langeweile zu versinken, forscht sie statt Pakete auszupacken lieber zur Vergangenheit ihres neuen Ortes. Während die Männer des Dorfes schweigen, findet sie in Ruth (Gabriela Maria Schmeide) eine auskunftswillige Informierte. Diese hat das „Archiv der unerhörten Frauen“ angelegt. Darunter befindet sich auch die Geschichte von Abelke Bleken, nach der Brittas Straße benannt ist. Eine Großbäuerin, die im 16. Jahrhundert ganz alleine ihren Hof bewirtschaftete. Als durch eine Sturmflut der Deich brach, versagte man ihr Hilfe und so konnte sie der Deichpflicht nicht nachkommen. Von der Kirche und den Dorfvorstehern wurden Gerüchte gestreut, sie sei eine Hexe, mit dem klaren Ziel, sich ihren Hof unter den Nagel zu reißen. Sie leistete bis zum Schluss Widerstand, wurde gefoltert und hingerichtet.
Britta ist fasziniert von dieser Frau, in deren Geschichte sie sich wieder erkennt. An ihrer Seite hat sie das „Land“ (Florence Adjidome). Zunächst ist sie irritiert durch die Einflüsterungen des Flusses, der Vögel, des Moores und der Erde. Doch bald kuschelt sie sich an die schwarz-glitzernde Mutter Natur, die ihr das Gefühl der Unterstützung gibt. So entsteht langsam ein Frauen-Kollektiv in „Marschlande“, nach dem Roman von Jarka Kubsova in der szenischen Fassung von Hannah Zufall.
Regisseurin Jorinde Dröse verschneidet die Geschichten der beiden Frauen, zwischen denen 500 Jahre liegen, vor dem schicken, aber leeren Bühnenhaus. Beständig wechseln die Zeitebenen. Schließlich hängt alles zusammen. Die patriarchale Unterdrückung hat kein Ende. Doch während Abelke konsequent und mutig Widerstand leistet, ergibt sich Britta in ihr Wohlstandsschicksal. Vielleicht ist sie auch deswegen so entsetzt über das Resultat ihrer totalen Abhängigkeit von ihrem Versorger.
Nellie Fischer-Benson,als Abelke und Cathérine Seifert als Britta dürfen ihren Rollen viel gelebtes Leben einhauchen. Das bleibt allen Männern verwehrt. Sie werden auf holzschnittartige Figuren reduziert. So ist die Frage nach Gut und Böse sehr schnell geklärt. Bei Abelkes Geschichte mag das noch gerechtfertigt sein, doch bei Brittas? In den dazwischenliegenden Jahrhunderten ist einiges für die Gleichberechtigung der Frauen geschehen. Warum verharrt Britta dennoch so lange in einer passiven Rolle? Diese Frage ist die eigentlich interessante, die dieses Stück leider nur indirekt stellt. Britta holt sich Hilfe von einer Frau, von deren Nöten und Sorgen sie keine auch nur ansatzweise nachempfinden kann. Oder doch? Zum Schluss erkennt sie, dass ihr Noch-Mann ihr gemeinsames Konto geräumt hat und sie mittellos dasteht. Doch sie hätte m Gegensatz zu Abelke auf dem Papier alle Mittel gehabt, um das zu verhindern!
Ein klar emanzipatorisches Stück, das hier auf der Bühne des Thalia Theaters zu sehen ist. Doch die Parallelität der beiden Geschichten greift zu kurz. Die klare, zu einfache Aufteilung in Opfer und Täter hilft heute nicht auf dem Weg zur Gleichberechtigung weiter. Vor fünfhundert Jahren fehlten den Frauen noch die rechtlichen Mittel, um sich zu wehren. Doch heute ist das Geflecht aus Abhängigkeiten, Wünschen und Verpflichtungen wesentlich komplexer. Das wird im Stück leider nur angedeutet. So bleibt es zunächst beim wohligen Gefühl des Wiederkennens und der Hoffnung auf Frauensolidarität, könnte aber hoffentlich im nächsten Schritt dazu führen, über die Ursachen (auch selbst-)kritischer nachzudenken. Meinte das Britta etwa, als sie zu ihrer Tochter am Schluss sagt, dass sie erst in die Vergangenheit gehen musste, um ihre eigene Gegenwart zu verstehen? Sind wir tatsächlich noch keinen Schritt weiter?
Birgit Schmalmack vom 24.10.25
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