Verwandliung, Thalia
Verwandlung, Thalia
Copyright: Krafft Angerer
Fremdkörper
Alle drei Protagonisten sind sich fremd geworden. Sie haben unruhige Nächte, wachen auf und fühlen sich verwirrt, verwandelt und verloren. Sie sehen sich gespalten in zwei Hälften, die sie nicht zusammenbringen können. Warum, das wird erst im Laufe des Abends klar. Einstweilen irren sie zwischen den unheimlich schwarzverkohlten Überresten von Häusern, dem zerborstenen Zimmer und den Möbelversatzstücken hin und her. Nehmen mal auf dem Sofa, mal an dem Esstisch und mal auf dem Boden des zerstörten Zimmers Platz.
Der Eine (Sinan Güleç) irrt auf den Fluren der Ausländerbehörde herum, sitzt dann seiner Bearbeiterin gegenüber und erhält von ihr den Ausreisebescheid zurück in die Türkei. Er irrt danach auf den Straßen herum, gerät in einen Club und nimmt so viele Drogen und Alkohol zu sich, dass er zusammenbricht. In der Klinik platzt es dann im Gespräch mit der Therapeutin aus ihm heraus. Seine deutsche Umwelt sehe in ihm ein Ungeziefer, das ausgerottet gehöre. Dann verwandele er sich eben auch in eines. „Dann bin ich halt der Kanake.“
Der Zweite (Camill Jamal) fühlt sich um die eine Hälfte seiner Wurzeln betrogen. Sein palästinensischer Vater wollte ihn auf keinen Fall zu einem „Kanaken“ machen und unterstützte deshalb seine Erziehung zu einem deutschen Jungen durch seine deutsche Mutter. Doch seit zwei Jahren fühlt er nun eine so große Taubheit und Leere, dass er seinem Vater Vorwürfe macht. Warum hast du mir die Möglichkeit auf die zweite Hälfte meiner Geschichte vorenthalten?
Die Dritte (Cennet Rüya Voß) ist die Frau aus der Ausländerbehörde. Auch sie ein Migra-Kind. Auch sie sei sich selbst fremd geworden, doch bei ihr durch Überanpassung an die deutsche Gesellschaft, damit sie nun hier in der Behörde jeden Tag Ausreisebescheide überreicht. So fremd, dass sie Nacht für Nacht in einen Club geht und so lange tanzt, bis sie alle Gedanken herausgeschüttelt hat und nicht ständig weinen muss.
Regisseur und Autor Burhan Qurbani hat seinen Text nach Motiven von Kafka geschrieben. Zusammen mit den persönlichen Geschichten der Spielenden ist daraus ein facettenreicher, spannender und aufwühlender Abend geworden. Hier tauchen die Zuschauenden tief in die Gefühlslage von als fremd gelesenen Menschen ein. Nachdem der Deutsch-Türke der Therapeutin (Sandra Flubacher) all die Erwartungen beschrieben hat, die er erfüllen soll, von der deutschen Gesellschaft, von der Familie, von der türkischen Community, fragt sie ihn schlicht: „Und was willst du?“ Er ist sprachlos. Das sei er noch nie gefragt worden.
Dieses Stück kommt düster daher. Damit bleibt es ganz in der Tradition von Kafka. Es bedient sich vieler Motive aus seinen Werken. Nicht nur Stichworte aus „Die Verwandlung“, sondern auch aus „Brief an den Vater“ und „Der Prozess“ tauchen auf. Qurbani steigt tief in die dunklen Emotionslandschaften der als "Fremdkörper" Bezeichneten hinab. Die beschaulichen Oberflächen interessieren ihn nicht. Wo bleibt die Hoffnung, fragten Zuschauer im anschließenden Gespräch. Doch genau in diesem intensiven Eintauchen liegt die Hoffnung. Die zweite Generation hat so viel Vertrauen in die Zuhörenden, dass sie sich öffnet. Sie erzählt endlich ihre Geschichten und die Zuschauer:innen hören zu. So erst kann Verständnis entstehen. Und dies ist von einer Dringlichkeit, die nicht erst deutlich wird, wenn der Bundeskanzler die Verbesserung des Stadtbildes mit Abschiebungen in Verbindung bringt. Diese Unbedingtheit ist dem Spiel der Ensemblemitglieder in jedem Moment anzumerken. Man spürt, dass sie genau wissen, wovon sie sprechen. Das ist ein neuer Ton, der hier im Thalia Theater angeschlagen wird. Wenn das Theater ein offener vielfältiger Diskursraum sein soll, dann ist er dringend geboten.
Birgit Schmalmack vom 22.10.25
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