Textversion
Sie sind hier: Startseite

Wer braucht schon Fontane, wenn man Effi hat?



Von der Decke hängt eine Schaukel, blumenbekränzt. Auf ihr sitzt ein junges Mädchen. "I want to dance" steht auf ihrem bauchfreien, engen Top. Doch ihre Silvesterfeier findet ganz im trauten Familienkreise statt. Nur ein Gast schaut vorbei, der 21 Jahre ältere Instetten. Man schreibt das Jahr 1864, da ist das Feiern im nächsten Club noch weit entfernt. Und das junge Mädchen hat sich vorgenommen ein besserer Mensch zu werden. Vielleicht ist dieser ältere Mann genau der richtige Kandidat dafür? So nimmt sie kurzerhand den Antrag von Instetten an und findet sich kurz darauf in dem winzigen Kessin auf dem Lande wieder. Langeweile pur, zumal Instetten sich auch nicht als der Spritzigste erweist. Doch das junge Mädchen ist weder auf den Mund noch auf den Kopf gefallen. Sie versucht nach Kräften ihre Chancen zu nutzen, wo immer sie sie erblickt. Erst engagiert sie die Vertraute Roswitha als ihr Kindermädchen, dann veranstaltet sie mit dem jungen Crampas romantische Picknicks, während ihr Mann in Geschäften unterwegs ist.
Auch wenn kein Satz aus der ursprünglichen Romanvorlage "Effi Briest" für die theatrale Überschreibung von Moritz Franz Beichl mehr übrig geblieben ist, so ist seine Interpretation doch in einem seltsamen Zwischenraum zwischen Vergangenheit und Gegenwart angesiedelt. Jahreszahl- und Heiratstechnisch belässt er sie im 19. Jahrhundert, aber sprachlich katapultiert er sie direkt ins Heute. Alle derzeitigen Genderdiskurse finden direkt Eingang in seinen Text. In der Uraufführung durch den Autor selbst waren alle Rollen durch Männer besetzt. In der Inszenierung von Torsten Diehl im neuen Theater Altes Heizkraftwerk gilt dies nur noch für die Rolle der Roswitha, die rasant im Rollstuhl über die Bühne kurvt. Den Trash der Uraufführung schleuste Diehl mit der Sammelsuriumseinrichtung der drei Wohnungen ein, die alle aus dem benachbarten "Stilbruch" herübergeschafft worden sein könnten. Sie beherbergen die Wohnzimmer von Mutter und Vater Briest, von Roswitha und von Instetten.
Klar grenzt sich Effi optisch von all den anderen Gestalten auf der Bühne ab. Sie trägt als einzige keine Perücke. Sie ist natürlich, direkt und unverstellt. Alle müssen so gegen ihre Verkleidung anspielen. Sandra Kanthak als Mutter Briest kann ihr wachsende Befreiung, Selbstbewusstsein und sexuelles Empowerment dennoch deutlich machen. Jan Kampmann als Roswitha weiß ihre lange Haarpracht direkt in ihr Rollenspiel mit einzubauen. Doch Instetten hat es durch Lockengewirr oben und Bart unten schwer Ausdruck herüberzubringen.
Doch wie sagte es Roswitha zu Beginn so schön: Es geht hier einzig und allein um Effi. Und die ist eine Wucht. Ina Twest spielt alle übrigen an die Wand. Um dieses weibliche Powerpaket der überaus sympathischen Art dreht sich das ganze Bühnengeschehen. Sie ist sowohl der ästhetische wie auch darstellerische Anker in dieser Inszenierung, die mit vielen überraschenden Momenten daherkam und die weitläufige Bühne als Spielfläche voll auszunutzen verstand.
Birgit Schmalmack vom 17.7.23