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Work in progress

Gefährliche Liebschaften, St. Pauli Theater © Rafaela Proell



Ganz schön viel Mut für eine Eröffnungspremiere des diesjährigen Hamburger Theaterfestivals bewies sein künstlerischer Leiter Nikolaus Besch. Nach nur einer Woche Probe ließ er die beiden Schauspieler Caroline Peters und Martin Wuttke auf die Bühne des St. Pauli-Theaters treten. Mit jeweils einem großen Haufen Textblätter in der Hand sollten die Beiden Marquise de Merteuil und Vicomte de Valmont in Gefährliche Liebschaften verkörpern. Die Zuschauer:innen wurden also zu einer Lese- bzw. Durchlaufprobe eines Work in Progress geladen.

Vor einem Volantglitzervorhang steht dazu ein pompöses rotes Velourssofa im barocken Stil. Auch die Kostüme sind ähnlich ausladend angelegt, wenn auch mit Versatzstücken aus der Jetztzeit verziert. Kleine oder größere Tattoos am Hals oder auf der Brust deuten an, dass hier nicht alles so ernst gemeint ist, wie es scheinen könnte.

Liebe bedeutet für die Marquise nur Material um Menschen zu manipulieren. Denn Liebe, bei der sie zu fürchten hätte, dass die Lust zu Abhängigkeit, Verlust, Schmerzen und Trauer führt, Liebe erlaubt sie nur bei anderen, nie bei sich selbst. In Valmont glaubt sie einen ebenbürtigen Gefährten zu haben, der ihr zusätzlich den Kitzel eines immerwährenden Konkurrenzkampfes verschafft, und zwar um die Position des jeweils überlegenen. Gerne spannt sie ihn für ihre intriganten Spielchen ein, um ihn in ihrer Nähe zu belassen. So benutzt sie ihn, um die junge unschuldige Cecile in die harte Wirklichkeit der Enttäuschungen der Liebe einzuführen. Als Valmont sich jedoch parallel dazu in die brave Ehefrau Tourvel zu verlieben scheint, regt sich in ihr zu ihrem eigenen Erstaunen doch ein wenig Unruhe. Als Valmont seiner allzu moralischen Tourvel überdrüssig geworden ist und um die Gnade einer Nacht bittend bei ihr ankommt, ist sie scheinbar wieder ganz in ihrem Element. Doch nur kurz.

Die zukünftige Inszenierung unter der Regie von Jan Bosse ist nur in Ansätzen zu erahnen. Denn noch sind die beiden Protagonisten auf der Bühne zu sehr auf ihre große Lose-Blatt-Sammlung angewiesen, als dass sie ihre Charaktere ausgestalten könnten. Man verfolgt zwar interessiert das intellektuelle Gerangel der beiden auf der Bühne um den ersten Preis der Boshaftigkeit mit, aber fragt sich dennoch: Wohin soll uns dieser Schlagabtausch führen?

Die moderne Frauengestalt der Marquise, die sich für ihre Zeit unerhörte Freiheiten herausnimmt, nämlich genau die, die auch ein Mann für sich in Anspruch nimmt, bietet durchaus genügend Potential, um daraus ein interessantes Machtspiel zwischen den Geschlechtern zu machen. Doch nach dieser kurzen Probenzeit steht die Entwicklung zu einer ausgereiften Inszenierung noch ganz am Anfang. Zumal es in der heutigen Zeit wirklich kaum zu ertragen ist, wenn Valmont voller Stolz und ohne jede Brechung von seiner Vergewaltigung der 15-jährigen Cecile berichtet. Doch bis zur Premiere am Wiener Burgtheater werden Peters, Wuttke und Bosse sicher ihre Haltung zu dem Stück noch nachschärfen können.

Birgit Schmalmack vom 31.5.24