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Die Stürmerinnen des Kiezes

Kiezstürmer Frieda Lange und Lisa Pottstock: Ich erarte die Nakunft des Teufels


Dieses Jahr hätte das Abendprogramm im St.Pauli Theater "Kiezstürmerinnen" heißen müssen, denn es stand ganz im Zeichen der Frauen, sowohl am Regiepult wie auf der Bühne. Bei der ersten Arbeit Ich erwarte die Ankunft des Teufels war auch die Autorin eine Frau, und zwar wie sie sich selbst attestiert, eine ganz besondere. Ein Genie, das auf dem Lande in der totalen Ödnis gefangen ist und sich dennoch ganz woanders sieht. " Ich bin eine Phantasie – eine Absurdität – ein Genie!” Sie sehnt sich nach Ruhm, aber auch nach Berührung. Dem Regieteam Frieda Lange und Lisa Pottstock gelingt eine sehr eindringliche und berührende Umsetzung der Tagebücher von Mary MacLane, die 1910 19 Jahre alt war und sich aus ihren traditionellen Rollenvorstellungen an eine Frau der damaligen Zeit zu lösen versucht. War sie in der Realität stets alleine und ohne ein Gegenüber, so gönnen ihr die Regisseurinnen eines auf der Bühne. Ihre beiden Seiten (Greta Ebling, Sinem Süle), die gefühlvolle, weibliche und die zuspringende, männliche Seite dürfen hier in einen imaginierten Austausch gehen. Ja, bis die Anemonenfrau auftritt, in die sich Mary MacLane verliebt, obwohl sie so ganz anders ist als sie selbst. Weiblich verführerisch, sanft, schnurrend und liebevoll. Während Mary MacLane sich heimlich schon als Verlobte des Teufels sieht, vergeht sie vor Sehnsucht nach der Anemonenfrau. Zusammen mit den beiden Musiker:innen entsteht auf der fast leeren Bühne eine wunderbar zarte, einfühlsame und liebevolle Selbsterkundung. So aktuell, als wäre sie gerade erst erschienen und nicht vor mehr als einem Jahrhundert.

Frei nach Max Frisch entsteht in Last Call eine raffinierte Kriminalgeschichte, bei der eine Frau nach einem vermeintlichen tödlichen Autounfall die Chance nutzt, um aus ihrem dahinplätschernden Leben auszubrechen. Es wird zu einem Feuerwerk der Spiel- und Umsetzungseinfälle. Immer mit der stets anwesenden Handykamera flimmern sich die beiden Protagonistinnen durch die Geschichte. Wie die beiden Darstellerinnen (Leona Grundig, Alexandra von Giese ) das zusammen mit der Regisseurin Sophie Glaser auf der Bühne inszenieren, ist voll von Überraschungen und verschiedensten Stilmitteln. Schnitte, Kameras, Nebel, Folien, Kellergänge und Bodenklappen spielen dabei eine nicht unwesentliche Rolle. Wenn es zum Schluss plötzlich ganz schwarz und leer auf der Bühne und die letzte Szene als Hörspiel gegeben wird, ist klar: Die Tabula rasa für einen Neuanfang ist gegeben.

Die letzte Regiearbeit Kapital & Liebe von Lena Reißner hat von allem etwas. Anleihen an Pollesch blitzen auf, wenn die Darstellerinnen sich selbst immer wieder unterbrechend kaskadenhaft durch ein nicht enden wollendes Satzgeflecht hindurch philosophieren. Da verschränkt sich die Systemabwehr mit der Selbstfindung, der Colakonsum mit dem Bewusstsein des nahen Todes, die Sehnsucht nach Gemeinschaft mit der Neigung zum Egoismus. Und schon stehen die beiden Frauen (Emma Petzet, Anouk Piwek) am Altarbild, das statt Kerzen Coladosen ziert. Doch statt Schiller und ewiger Liebe wird hier Mensch ärgere dich nicht in der To-Go-Version gespielt und mit den Eisbären geheult. Ein Abend, der Klassiker mit Witz vom Sockel stoßen will und dabei etwas zu sehr im Slapstickmorast des oberflächlichen Klamauk steckenbleibt. Statt Systemkritik zu üben verkriecht man hier sich lieber unter der Plüschdecke des Selbstmitleids.
Birgit Schmalmack vom 5.5.23