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Die Rache der Tiere

Drive Your Plow Over the Bones of the Dead , HfMT Foto: Richard Stöhr


Janina gilt als die komische Alte in ihrem winzigen Dorf. Sie lebt mitten in einer idyllischen Natur, doch sie ist umgeben von Menschen, die aus ihr nur Profit schlagen wollen. Der direkte Kontakt zur Natur bringt offenbar keine besseren Menschen hervor. Im Gegenteil. Warum steht das Töten von Menschen unter Strafe, aber nicht das von Tieren? Doch so oft Janina sich auch an die Polizei oder die Behörden wendet, hört sie nur "nicht zuständig" oder "alles völlig legal". All das widert sie an.
Eines Nachts klopft ein Nachbar an ihre Tür: Der Nachbar zur anderen Seite, Bigfoot, sei tot. An einem Rehknochen erstickt. Sollten sich die Rehe an dem passionierten Jäger und ihrem Mörder gerächt haben? Janina ist fasziniert von dieser Idee. Kurz nach Bigfoots Tod geschehen im Dorf mehrere weitere Todesfälle, mysteriös, immer sind Tierspuren im Umfeld zu sehen. Doch als dann auch noch die Kirche, die zur Segnung der Jägergemeinschaft, also aus Sicht Janinas einer Gemeinschaft von Mördern, erbaut worden ist, eines Nachts brennt, schwant selbst ihren wenigen Freunden im Dorf, wer hinter all den Taten stehen könnte.
Wie die Jungregisseurin Frieda Lange in ihrer Abschlussinszenierung in der Sparte Musiktheater den Roman der polnischen Autorin Olga Tokarczuk über die mörderische Umweltaktivistin auf die Bühne der HfMT bringt, ist sehenswert. Zwischen den eigentümlich atmenden Felsformationen auf der Bühne werden aus den Schauspieler:innen des Ensembles in schnell wechselnden Rollen und kurzen aussagekräftigen Szenen ein Pilzsammlerpartyvolk, eine Kirchengemeinende, Jäger auf der Pirsch oder ermittelnde Polizisten.
Julia Blechinger spielt überzeugend eine Frau mit klarem Verstand und großem Herz, die selbstbewusst für ihre Überzeugungen eintritt und sich nicht den Mund verbieten lässt. Wer hier die Sympathien des Publikums hat, ist klar. Für über gut eineinhalb Stunden zumindest. Doch dann wird deutlich: Wir haben hier der Geschichte einer Mörderin gelauscht. Nicht die Tiere haben Selbstjustiz verübt, sondern Janina hat sich zu ihrem Werkzeug gemacht. Doch für ein moralisches Urteil der schnellen Art ist es da schon zu spät. Das Publikum ist dieser Frau in ihrem Denken gefolgt und kann sie nicht mehr einfach aburteilen. So auch nicht ihre Freunde, die ihr zur Flucht verhelfen, damit sie nicht im Gefängnis landet.
Mit sparsamem Requisiteneinsatz, atmosphärischer Lichtregie, innovativen Kostümen und Frisuren, effizienten Rollenwechseln, dramaturgisch klug gekürzter Textfassung und ein wenig Bühnennebel entstand ein Abend, der sich mit der komplexen Beziehung zwischen Mensch, Tier und Natur beschäftigt und die übliche Machthierarchie geschickt in Frage stellt. Die Musik der Künstlerin Rosa Anschütz fügt sich perfekt in die irritierende Atmosphäre zwischen Realität und Fiktion, zwischen Aberglaube und Tatsachen, zwischen Moral und Mord ein. Sie hätte gerne noch mehr im Fokus dieser Musiktheater-Inszenierung stehen können. Verdient hätte sie es allemal.

Birgit Schmalmack vom 15.03.24