"#Armutsbetroffen", Lichthof

#Armutsbetroffen, Lichthof
Fotos: © Fabian Raabe
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Sie sind meist unsichtbar. Warum? Ganz einfach: Sie sind mit dem Überleben beschäftigt. Sie haben keine Zeit und keine Energie, sich auch noch in die Öffentlichkeit zu positionieren. Sie sind Empfangende und damit in die passive Rolle gedrängt. Sie sind durchgefallen durch das Netz der Leistungsgesellschaft. Nun empfangen sie Leistungen vom Staat. Doch während Corona gab es plötzlich diesen #ichbinArmutsbetroffen. Unter ihm gaben sie sich selbst eine Stimme. Sie erzählten ihre Geschichten. Viele unter einem Pseudonym. Zu groß das Risiko, Opfer von Cybermobbing oder Anfeindungen im realen Leben zu werden.
Doch jetzt sind sie auf der Bühne zu hören und zu sehen. Der Regisseur Helge Schmidt hat sie mit seinen drei Schauspielerinnen (Agnes Decker, Ruth Marie Kröger und Laura Uhlig) unter Leuchtbögen auf drei kreisrunde blaue Teppichinseln gestellt. Die Texte bestehen aus Posts des Hashtags und aus Texten, die in dem Workshop „Alltägliche Armutserfahrungen – Erzählen als politisches Sprechen“ an der Universität Duisburg-Essen entstanden sind. Die drei Stellvertreterinnen erzählen davon, wie es ist, jeden Tag aufs Neue zu überlegen, wie man mit dem knappen Regelsatz, der ihnen zugestanden wird, über die Runden kommen kann. Da fehlt es an allem: an Geld für neue Kleidung, für ausreichend gesunde Lebensmittel, für ein Eis für die Kinder oder für Aktivitäten außer Haus. Armut führt zu Einsamkeit, wenn alle Freunde sich einen Restaurant- oder Kinobesuch leisten können, sie aber nicht.
Das größte Risiko zu dieser Gruppe zu gehören, haben Frauen, vor allem alleinerziehende Mütter. Oder Frauen, die Angehörige pflegen. Die nötigen Papiere fürs Amt bereitzuhalten kostet so viel Energie, dass kaum etwas für Anderes übrigbleibt. Und es demütigt. So drückt die Scham über die eigene Lage in den Rückzug. Wenn dann im Brief vom Amtsarzt steht: „Die verbliebene Arbeitskraft des Untersuchten ist wirtschaftlich nicht mehr verwertbar“, ist der eigene Abstieg dokumentiert.
Die Schauspielerinnen scheinen unter den Rechnungen zu ertrinken. Kissen voller Kassenbons schütten sie auf die Bühne. Selbst ihre Perücken bestehen aus ihnen, schwirrt ihnen doch der Kopf vor lauter Rechnungen. So greifen sie zum Schluss zur Selbsthilfe. Sie werfen den Reißwolf an. Das tut so gut, freut sich die eine. Sie hat ein Kurbelexemplar zur Hand und genießt die anstrengende Arbeit, die ihr das Schreddern all der erhaltenen Amtsbriefe macht.Immer wenn die Frauen auf der Bühne eine kleine Auszeit in einer Utopie brauchen, müssen die silber-spacig gewandeten Schauspielerinnen (Kostüme: Sina Brüggemann) ins Weltall, genauer ins Star-Trek-Universum, entfliehen, wo Armut nicht existiert. So weit sind wir hier auf der Erde noch lange nicht. Doch wie sagte eine der Alltagsexpertinnen im nachfolgenden Publikumsgespräch so treffend: „Gegen Armut hilft nur eines: Geld.“
Helge Schmidt und sein Team holt das schambehaftete Thema der Armut ins Scheinwerferlicht. Er stellt sich dabei ganz auf die Seite der Armutsbetroffenen. Gerade zur jetzigen Debatte über die vermeintliche Ausnutzung des Sozialsystems und die anstehenden Kürzungen der Sozialleistungen ein Thema, das relevant ist und zu dem die Betroffenen gehört werden sollten.
Birgit Schmalmack vom 7.10.25
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