Macht, Schauspielhaus
Macht, Schauspielhaus
(Foto: Thomas Aurin)
Das Gift der Gewalt
In der Mitte der komplett weißen Bühne sind in einer Ellipsenform Stoffbahnen aufgehängt. Sie können sich zu einem dicht geschlossenen Rund ziehen, sich Stück für Stück öffnen und auch Schicht um Schicht zu Boden sinken. In so einem Raum befindet sich Liv. Sie ist eine junge Frau, die ihr Leben wohl geordnet hat. Wie viel Mühe ihr das aber macht, wird erst nach und nach klar.
Sie ist glücklich mit Thorje (Jan Thümer) verheiratet, lebt mit ihren zwei Kindern in einem Haus in einer teuren Gegend Oslos und arbeitet als Pflegerin. Sie kann es sich leisten shoppen zu gehen, findet außerdem Zeit fürs Fitnessstudio und trifft sich regelmäßig mit ihrer Künstler-Freundin Frances (Henni Jörissen). Doch plötzlich trifft sie den Mann wieder, der die Erinnerungen an die Oberfläche spült. Doch sie kann das Wort nicht aussprechen. „Unfreiwilliger Sex“ schreibt Frances auf eine der transparenten Vorhänge an der Ellipse. Und streicht es gleich danach durch. „VER“ malt sie dagegen mit ihrem Pinsel auf die Bahn. Endlich kann Liv es zugeben. Ja, sie ist vergewaltigt worden.
Macht ist über sie ausgeübt worden. Sie dagegen fühlte sich nur noch ohnmächtig. Still und ohne sich zu wehren, ließ sie alles über sich ergehen, bis der Mann endlich eingeschlafen war und sich fortstehlen konnte. Mit aller Macht eroberte sie sich ihre Handlungsoberhoheit wieder zurück. Sie nahm sich vor, dass sie dieser einer Nacht und damit diesem Mann nicht die Macht geben wollte, über ihr weiteres Leben zu bestimmen. Sie sei stark genug, um damit klar zu kommen. So verschloss sie das Ereignis in ihrem Inneren. Scham wollte sie durch Widerstandskraft ersetzen. Zu sehr hinterfragte sie sich, um offen das Erlittene zu verbalisieren. Sie war freiwillig in die Wohnung des Mannes gegangen. Sie hatte sich nicht gewehrt. Sie hatte einzig in den Tauben vor dem Fenster stumme Zeugen gesucht.
Doch Gewalt, die einem angetan wird, verschwindet nicht. Sie frisst sich in den Körper ein wie Säure. Sie dachte, es ungeschehen zu machen, indem sie sie einschloss und nicht einmal ihrem Mann und ihrer Freundin davon erzählte. Doch beide ahnen etwas. Frances fordert Liv auf, an ihrem neuen Kunstprojekt mitzumachen. Sie will für Frauen ihren speziellen Lebensmantel nähen, indem sie in ihn ihre durchlebte Geschichte einarbeitet. Ihr Mann Thorje nimmt ergeben hin, dass sie auf ihrem Heimweg von der Arbeit mit ihm telefonieren muss, um sich abzusichern, und sie kein Haus am Rande eines Waldes kaufen konnten, weil sie sich dort fürchtete.
Linn Reusse gibt dieser Liv ein Gesicht, einen Körper und eine Stimme. Sie schlüpft in diese Rolle mit so viel feinfühliger Empathie, dass man ihren unterdrückten Schmerz sogar dann fühlt, wenn sie sich nur den Lebensmantel, den Frances für sie vorbereitet hat, anstecken lässt. Sie steht währenddessen mit dem Rücken zum Publikum, das in zwei Reihen im Rangfoyer ganz dicht vor ihr sitzt, und trotzdem sieht man ihre Schultern zucken und ahnt, wie viel Mühe es sie kostet, ihre Tränen zu unterdrücken.
Die junge Regisseurin Patricia Camille Stövesand hat den Roman der norwegischen Autorin Heidi Furre behutsam und berührend auf die intime Bühne des Rangfoyers im Schauspielhaus gebracht. Ohne moralischen Impetus oder überdeutliche Botschaft. Ob dafür die Erläuterungen zu der MeToo-Bewegung nötig gewesen wären, die Thorje während des Stückes ganz sachlich referiert, kann man diskutieren, aber sie machen die Arbeit nicht weniger sehenswert. Denn im Zentrum steht diese Frau, die aus der eigenen Ohnmacht herausfinden und mit einem enormen Energieaufwand die Gewalt in sich verschließen will und merkt, dass diese einer eigenen Logik folgt. Das Gift der Gewalt sickert trotzdem ein. Während Livs Stimme weiter aus dem Off spricht, bewegt Reusse sich mit eckigen, verzweifelten, verkrampften und kräftigen Schritten über die Bühne, bis sie die Stoffbahnen herunterreißt und sich in den riesigen Stoffberg wirft. Erst durch den Mut, die eigene Ohnmacht einzugestehen kann neue Macht erwachsen.
Birgit Schmalmack vom 30.10.25
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