Frankenstein, EDT

Frankenstein, EDT
Sinje Hasheider
Ein großer Imaginationsraum
Soviel ist sicher: Dieser Frankenstein unterläuft alle Erwartungen. Die Inszenierung von Johanna Louise Witt am Ernst Deutsch Theater spielt nur mit ihnen, bedient aber keine. Kein Horror weit und breit. Nur Nebel in einem unendlichen Weiß. Die Regisseurin hat aus der sonst meist ausgelassenen Rahmenerzählung der Romanvorlage von Mary Shelley das ganze Stück entstehen lassen. Bei ihr steht die Crew des Expeditionsschiffes im Mittelpunkt des Geschehens. Sie ist verzweifelt, denn sie steckt im Eis fest. „Nichts als endloses Weiß“ können sie sehen. Da finden sie ein Bündel auf dem Eis. Sie ziehen es in ihr Schiff und entdecken allerlei geheimnisvolle Dinge in ihm. Unter anderem die Aufzeichnungen eines Herrn Frankenstein. Anscheinend ein Wissenschaftler, die neues Leben erfinden wollte. Sie fangen, sich die Hintergründe dazu zu erfinden. Halb selbst im Wahn vor Kälte, Hunger und Todesangst, entspinnen sie sich die Geschichte um den Frankenstein, der eine Kreatur erschafft, die bald zur Gefahr für ihn und seine Mitmenschen wird. Weil die Kreatur so hässlich ist, erfährt sie nur Ablehnung von denen, die ihr begegnen. Und reagiert ihrerseits mit Hass. Sie fordert von ihrem Erschaffer ihr ein Gegenüber zu erschaffen. Nur die Liebe eines anderen könnte ihre Gefahr für die Gesellschaft beenden. Und wirklich: Frankenstein weiß sich keinen Ausweg, als erneut ein Lebewesen zu erschaffen. Doch seine Zweifel nehmen währenddessen immer weiter zu. Wenn die beiden nun Nachwuchs bekommen und die Gefahr sich nur vermehren würde? Er zerstört sein Geschöpf. Die Kreatur nimmt bittere Rache.
All das ist auch aus den zahlreichen Bearbeitungen des Stoffes von Shelley bekannt, aber Witt geht einen anderen Weg: Sie bebildert davon nichts auf der Bühne. Die Mitglieder der Crew schlüpfen in alle Rollen der rein imaginierten Handlung. Nie weiß man, in welcher Ebene der Geschichte man sich gerade befindet. Alles vermischt sich hier mit allem. Was ist reine Erfindung, was passiert wirklich, was ersinnen die Besatzungsmitglieder gerade im Moment, was entnehmen sie den Fundstücken, wo beginnt ihre eigene Angst, wo die von Frankenstein? Welche sind ihre Fragen als Wissenschaftler auf Expedition, was sind Frankensteins Fragen als Lebenserkunder?
Während auf der Bühne eigentlich alles nur im Kopf passiert und die Zuschauer sich auf dieses Experiment einlassen müssen, stellen sich die Fragen nach Verantwortung und Schuld ganz automatisch. Gerade in einer Zeit, in der durch die KI die Erschaffung von menschenähnlichen Denk- und Handlungsstrukturen möglich zu werden scheint, sind sie aktueller denn je. Diese Inszenierung wagt es sie in vollkommener Abstraktion zu stellen. Sie vertraut dem Theater als Imaginations- und Denkraum, das ganz von seinem tollen Schauspielerensemble (Sheila Bluhm, Navana Heuer, Rune Jürgensen, Isabella Vertes-Schütter, Oliver Warsitz) lebt. Sie verzichtet fast vollständig auf Bebilderung und verlangt dem Publikum einiges an Anstrengungsbereitschaft ab. Aber es lohnt sich, sich auf dieses Experiment einzulassen. Das ist Theater, das man so noch nie im EDT gesehen hat. So lohnt sich auch für Menschen der Weg nach Mundsburg, die bisher dieses Theater nicht so häufig besucht haben. Denn die neue Intendanz wagt neue Wege.
Birgit Schmalmack vom 3.10.25
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