Das große Heft, Schauspielhaus
Das große Heft, DSH
© Lalo Jodlbauer
Der zu große Schmerz
Da stehen die Zwei unter dem riesigen Rad aus Lautsprechern, die beiden ungleichen Zwillinge. Im Krieg von ihrer Mutter bei der überstrengen, gnadenlosen Großmutter untergebracht, erkennen die beiden aufgeweckten Schicksalsbrüder ihre einzige Überlebenschance in der Anpassung an die Verhältnisse. Sie härten sich gegenseitig mit Beschimpfungen, Schlägen, Verletzungen und Übungen zur Grausamkeit ab, bis sie gänzlich gefühllos den Zumutungen der Kriegszeit gegenübertreten können. Alle Emotionen eliminieren sie sowohl aus ihrem Leben wie aus ihrer Sprache. Gefühlsausbrüche verbieten sie sich. „Wir misstrauen den Worten“, sagen sie. So klopfen sie ihre Sprache auf ihre Tauglichkeit ab. Nur eine genaue Beschreibung der Umstände wollen sie liefern. Die ungeschönte Wahrheit wollen sie dokumentieren. Ihre eigenen Befindlichkeiten streichen sie konsequent aus ihren Berichten, die sie ins Große Heft übertragen.
Die Schmerzen des Krieges sind nur zu ertragen, wenn die eigenen Gefühle verdrängt werden. Sie werden zum Luxus, wenn einzig Überleben und Funktionieren gefragt ist. Unter der anonymen Gefahr des sich bewegenden Riesenrades, aus dem unbekannte Stimmen über das Leben der Jungen entscheiden, finden die Zwillinge durch ihren Abhärtungsprozess zu einer Autonomie, die ihnen die Handlungsmacht zurückgibt. In einem Alltag, der ihnen keinerlei Liebe, Anerkennung und Menschlichkeit gewährt, sehen sie ihre einzige Chance in noch größerer Härte, sich selbst aber auch den Menschen ihrer Umgebung gegenüber. Sie scheuen vor keinerlei Taten zurück. Wenn sie es für nötig halten, greifen sie auch zum Rasiermesser oder zur Munitionskugel. Zum Schluss schicken sie sogar den eigenen Vater in den Tod, um auf seinen Spuren die Flucht über den verminten Grenzstreifen zu schaffen. Aber nur einer von ihnen. Der andere bleibt im Haus der inzwischen verstorbenen Großmutter. Ihre Trennung ist der letzte Beweis, dass ihr Abhärtungsprozess gelungen ist. Nun ist ihre Einsamkeit allumfassend und keine Herausforderung des Lebens kann sie mehr schocken. Die Zwillinge werden grandios gespielt von Kristof Van Boven und Nils Kahnwald. Sie schaffen es, ihre Gefühllosigkeit mit der verzweifelten Anstrengung, die es für diese bedarf, zu unterlegen. Sie verkörpern sowohl ihre Kindlichkeit wie ihre zu früh erzwungene Erwachsenwerdung. Eine Tänzerin (Sabine Molenaar) ist zuerst die lebende Mutter, dann ihr Skelett. Mit wie abgeschlagenen wirkenden Gliedmaßen versinnbildlicht sie auf eindrucksvolle Weise ihre Hilflosigkeit, in dieser Zeit ihre Kinder zu schützen.
Die Autorin, die hinter diesen Berichten steht, ist Teil der Inszenierung. In rotkariertem Anzug zu Topffrisur bleibt Àgotha Kristóf (Julia Weininger) stets nah bei den beiden Jungen, ordnet die Kapitel, sortiert die Textzettel, heftet sie ab, greift auch einmal korrigierend ein, wenn ihr etwas fehlt. Immer wieder hinterfragt sie dabei auch ihre eigene Rolle. Wieso wird sie zur Protokollantin dieser allmählichen Verrohung der Zwillinge? Krieg sei für sie zum Normalzustand der Welt geworden. Das präge und verpflichte.
Diese kluge reduzierte Umsetzung des Romanstoffes für die Bühne hätte schon gereicht, dass diese Arbeit von Regisseurin Karin Henkel am Schauspielhaus nachhaltig berührt und bewegt. Doch dabei wollte sie nicht stehen bleiben. Sie wollte verhindern, dass die distanzierte Erzählweise eine Distanzierung der Zuschauenden ermöglicht. So bricht Nils Kahnwald kurz vor der Pause aus seiner Rolle als ein Zwilling aus und schwenkt nach Hamburg, zuerst in die Geschichte des Schauspielhauses in der Zeitperiode, aus der auch die Zwillinge berichten. Dann zur Nacht des "Hamburger Feuersturms", in dem durch die alliierten Luftangriffe auf Hamburg Ende Juni 1943 mindestens 35000 Menschen starben. Er bittet sieben Zeitzeugen dieser Nacht auf die Bühne. Sie alle waren zu diesem Zeitpunkt Kinder. Auch sie geben jetzt Berichte ab. Die meisten von ihnen überlebten in einem der Bunker. Doch als sie wieder herauskamen, mussten sie durch Straßenzüge voller Häuserruinen über viele verkohlte Leichen steigen. Sie gaben sich mit den Erklärungen der Erwachsenen zufrieden, das seien Puppen oder Schlafende. Dennoch verfolgen sie die Bilder bis heute. Einer von ihnen glaubte, dass er über die Schrecknisse einfach hinwegschweben könnte, und eine jüdische Hamburgerin weiß sich gerade durch den Feuersturm gerettet. Ihr bevorstehender Abtransport nach Theresienstadt konnte nicht mehr durchgeführt werden, da die Verwaltung im Chaos versank. Sie emigrierte nach Amerika. So krachen die Emotionen direkt von der Bühne in den Zuschauerraum. Distanz jetzt erst recht keine Option mehr.
Henkel macht klar: Die Kinder der Täter und die Kinder der Opfer, sie alle waren gleichermaßen unschuldig an der Situation, in die sie geworfen wurden. Sie alle waren gleichermaßen Opfer, die die Spuren ihrer Kriegserlebnisse bis ins hohe Alter mit sich herumtragen. Die Verknüpfung der Kinderberichte aus unterschiedlichen Perspektiven verstärkte den nachhaltigen Eindruck dieses Abends, der niemanden kalt lassen kann. Zum Schluss hat die Autorin das letzte Wort: "Man wirft mir vor, traurige Bücher zu schreiben, aber es gibt Leben, die sind noch viel trauriger.“
Birgit Schmalmack vom 21.11.25
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