THEY THOUGHT THEY WERE FREE, Sprechwerk

THEY THOUGHT THEY WERE FREE
Theater Fanal
Meine Nazis
Ein Amerikaner begibt sich sieben Jahre nach Kriegsende nach Deutschland und sucht das Gespräch mit den Deutschen. Alle von ihnen waren Partei-Mitglieder, aus den ein oder anderen Gründen. Es sind „kleine Leute“, wie sie sich selbst nennen. Der Amerikaner nennt sie „meine Nazis“, seine „Freunde“. Er will verstehen, was sie umgetrieben hat. Er glaubt daran, dass jeder Mensch gefährdet ist, diesen schleichenden Prozess der Entmenschlichung zu erleben. Umso wichtiger sei es, zu verstehen, wie er geschehen kann.
Das Theater Fanal in Zusammenarbeit mit dem Kalliope Universitätstheater hat im Sprechwerk ihre Umsetzung des Stoffes nach dem Buch von Milton Mayer gezeigt. Jeweils mit einem moderierten Gespräch nach der Aufführung. Die Inszenierung durch Regisseur Merlin Gebhard schafft mit dem schlichten Setting auf der Bühne, das nur aus einer Vielzahl von Klappstühlen besteht, einen eindringlichen Abend über die Verführbarkeit von Menschen. Jeder der Nazis (im Original sind es alles Männer, hier stehen auch zwei Frauen mit auf der Bühne) hat seine eigene Begründung für den Eintrag ins Parteiregister. Manche erhoffen sich eine wirtschaftliche Erholung im Nachkriegsdeutschland. Manche schätzen die gemeinschaftsorientierten, sozialistischen Zielrichtungen der Nationalsozialisten. Manche machen sich vor, dass sie innerhalb des Systems mehr bewirken können als außerhalb. Manche versäumen es, an der entscheidenden Stelle „Nein“ zu sagen und schliddern in die Abhängigkeit zur Partei. Jede/r hat seine/ihre eigene Geschichte. Ihr wird hier auf der Bühne zugehört.
Sie alle tragen weiße Oberteile, signalisieren sozusagen eine weiße unschuldige Weste. Doch im Laufe des Stückes verschärft sich nicht nur die Lage der Opfer dieser enthumanisierenden Politik, sondern auch der Ton des Fragers. Immer wütender wird er angesichts der Ausflüchte „seiner Nazis“. Kurz vor Ende wirft er alle Stühle auf der Bühne um. Wenn er auch noch Verständnis für ihre Entwicklung während der NS-Herrschaft aufgebracht hatte, so verlangt er jetzt, sieben Jahre später, von ihnen eine Distanzierung. Doch selbst dazu sind die meisten von ihnen nicht bereit. „Hitler hat nichts davon gewusst.“ „Es gab auch gute Sachen unter den Nationalsozialisten.“ „Ich habe meinem jüdischen Arzt die Hand gegeben, als ich ihn am Bahnhof traf.“ Nur einer von ihnen bekennt freimütig: Hätte ich nur am Anfang meine Mitarbeit verweigert und das öffentlich bekannt, dann hätte ich vielleicht die Millionen Opfer retten können.
Angesichts heutiger Entwicklungen in der weltpolitischen Lage können Beschreibungen des schleichenden Prozesses der Normalisierung des eben noch Unsagbaren nur aufrütteln. So wurde das anschließende Angebot des Sitzkreises auf der Bühne von den Zuschauenden gerne in Anspruch genommen. Hier gab es Raum für das Teilen von Gefühlen, Gedanken und Handlungsoptionen. Ein anregender Abend, der zeigt, dass politisches Theater notwendiger denn je ist.
Birgit Schmalmack vom 28.6.25
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