Retina Maneuver, Sprechwerk

Retina Maneuver, Sprechwerk
Ping-Hsiang Wang
Kluge Spurensuche
Jahr für Jahr geht der aus Taiwan stammende Ping-Hsiang Wang zurück in seinem Apple Kalender. Hier hat er alle Ereignisse seines Lebens festgehalten, um ihr Vergessen-Werden zu verhindern. Er hat ein Zieldatum im Kopf: den 4.9.2012. Er will unbedingt wissen, warum das Erscheinungsdatum des Alicia Keys’ Chart-Hit „Girls on fire“ so ein Wendepunkt in seinem Leben war, wie er stets behauptet. Doch zunächst landet er dabei bei anderen Turning Points. Ganz persönlichen. Er lernt seinen Partner kennen, den er nur ein Jahr später heiratet. Er reist mit ihm zu einem Festival nach Hongkong. Als er die Fotos an seinem Schreibtisch sortiert, stellt er fest, dass die meisten auf den Fotos nicht mehr in China sind. Die Niederschlagung der Umbrella-Demos, bei denen die chinesische Jugend so viel Hoffnung auf demokratische Veränderungen spürte, trieb die meisten von ihnen ins Ausland. Wang wandert in seinem Kalender noch weiter zurück. So landet er endlich im Jahr 2012. In diesem Jahr absolvierte er seinen Wehrdienst. Für ihn symbolisiert die taiwanesische Armee die Rückversicherung, dass sein Land sich gegebenfalls gegen die Aggression des großen Nachbarn China zur Wehr setzen und damit die Demokratie verteidigen könnte. Dabei hasst Wang jede Art von Gewalt. Würde er zur Not als Reservist gegen China in den Krieg ziehen? Diese Frage lässt er in seiner Lecture Performance und im anschließenden Artist-Talk bei Fringify Festival in Hamburg bewusst offen.
Beeindruckend wie klug diese Performance dramaturgisch aufgebaut ist. Sie zieht den Zuschauenden über das ganz persönliche Kennenlernen eines sympathischen Menschen, der einen Popsong singt, in eine Geschichte hinein, die für das deutsche Publikum eigentlich sehr weit weg ist. Den Konflikt zwischen Taiwan und China. Ganz allmählich wird der Zoom auf diesen Menschen immer gröber eingestellt. Die Beschränkung der Freiheiten in China in künstlerischen Kreisen, die Demonstrationen in Hongkong, die Verarbeitung von kriegerischen Auseinandersetzungen in Hollywood bis hin zu der großen Frage, ob auch ein Pazifist für die Verteidigung seines Landes in den Krieg ziehen würde. Dass Wang sich gleich zu Beginn Augentropfen in die Pupille fallen lässt, um seine Lichtempfindlichkeit und Emotionalität zu steigern, ist nur ein künstlerisches Element, doch es zeigt den bis ins kleinste Detail durchdachten Aufbau dieser Performance. Die auch deswegen beeindruckt, weil Wang in jedem Moment zeigt, dass hier kein Darsteller, sondern ein echter Mensch auf der Bühne steht. Wenn er zum Schluss seine in der Armee eingeübten Kampfschritte nicht mit dem Bajonett sondern mit dem Regenschirm zum Popsong vollführt, ist seine Botschaft klar und dennoch ambivalent. Er will sich zur Wehr setzen. Doch am liebsten mit einer theatralen Performance, mit dem Metier, das er, wie er hier bewiesen hat, exzellent beherrscht.
Birgit Schmalmack vom 12.6.25
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