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Tagebuch vom Ende der Welt, Lichthof

Tagebuch vom Ende der Welt, Lichthof

Foto: Fabian Raabe

Wie Schnittblumen

Ein dunkler Berg türmt sich in der Mitte der Bühne auf. Düster wirkt er vor dem ganzen Nebel, der um ihn herum wabert. Doch er ist weich, wie sich später herausstellt, mit Plüsch überzogen, auch als Boxsack oder Sitzkissen tauglich. Macht es das besser? Keineswegs. Das stellt die Ich-Erzählerin schon bald fest. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine stößt die Theaterautorin und Literaturdozentin Natalja Kljutscharjowa an Barrieren, die ihr keine Wahl lassen. Nur eine vorgeschriebene Reaktion auf die militärische Operation, wie Putin sie da noch nennt, ist erlaubt. Auch kann sie nicht fliehen, wie so viele andere aus ihrem Umfeld. Zu Beginn bekommt sie noch Nachrichten, um sich für eine Kundgebung auf einem Platz zu treffen. Doch selbst wenn sie sich nur zum stummen Weinen treffen, gilt dies schon als Volksgemeinschaft zersetzende Straftat. Sie findet ein Bild dafür: „Das ist wie abgeschnittene Blumen in einer Vase. Eine Zeitlang sehen sie noch aus wie lebendig. Aber in Wirklichkeit haben sie keine Wurzeln mehr, keinen Boden, keine Zukunft.“ Die Veränderung ihrer Umgebung dokumentiert und verarbeitet in ihrem Tagebuch. In einem Kindergarten findet eine Scharfschützenstunde statt. Väter spielen auf einem Campinglatz Krieg mit ihren Kindern. Familien zerbrechen an der fortwährenden Propaganda. Auch sie verliert Freunde, mit denen sie über 20 Jahre verbunden war, von einem Tag auf den anderen.
Fast alle, die dableiben, richten sich mit dem weichen Berg all des Ungesagten in ihrem Leben ein. Immer wieder bricht sie in Tränen aus. Das Weinen wird für Natalja schließlich zu einem Ventil. Dabei kommt sie zu einer „seltsamen und überraschenden Erkenntnis“: Diese Trauer, dieses Weinen, birgt eine „Form absoluter Freiheit“ in sich.
Regisseur Fabian Gerhardt hat den so wichtigen Stoff, der es aus Russland herausgeschafft hat, auf die Bühne gebracht. Mit der in Moskau geborenen und in Deutschland ausgewachsenen Schauspielerin Anastasia Gubareva macht er ihn zu einem berührenden Zeugnis der Widerständigkeit in einem Land, das keinen Widerspruch zulässt. Unterlegt mit russischen Liedern, die Anastasia an der Gitarre singt oder zu denen sie tanzt, gibt er die Zuschauenden Einblick in die Gefühlslage der Russen und Russinnen, die sich im Inneren Widerstand befinden. Der Text zeigt, dass das Fehlen des öffentlichen Protestes keinesfalls bedeutet, dass er nicht vorhanden ist. Doch er zeigt auch, dass die Propaganda in die Köpfe der im Land Verbliebenen einsickert und jedes Gespräch mit denjenigen unterbindet, die anderer Meinung sind. Und er führt vor, wie letztere im Verlaufe des Krieges immer einsamer werden, da immer mehr Gleichgesinnte außer Landes fliehen. So verliert auch Natalja ganz allmählich ihr persönliches Netzwerk, das ihr zuvor noch Halt gab. Hoffnung findet sie ausgerechnet in einem wahrhaft dystopischen Buch, in George Orwells 1984,: „Wir treffen uns dort, wo keine Dunkelheit herrscht.“ Das ist ihr letzter Satz, mit dem sie sich Mut zu machen versucht. Doch der dunkle Berg, der alle Schläge absorbiert, bleibt zurück. Ein beindruckender Abend, der gerade beim berechtigten Fokus auf dem Leid der Ukrainer:innen, noch mehr Aufmerksamkeit verdient hätte.

Birgit Schmalmack vom 12.6.25

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