NOT, Berliner Festspiele

NOT, Berliner Festspiele
Foto: Fabian Hammerl
So lange wir erzählen, sterben wir nicht.
Ein Krankenhaus, ein Heim, eine Showbühne, ein Alptraum? Oder alles zusammen? Von einem Gitter-Raumteiler getrennt sind auf der Bühne vier Betten, mehrere Podeste, Stühle, Instrumente und Mikrophone verteilt. Hier sollen Geschichten aus 1001 Nacht erzählt werden, so verrät es der Ankündigungstext. Doch die Verknüpfung zu den Erzählungen der Scheherazade scheint im Aufschub des drohendes Todes zu liegen. So lange wir erzählen, sterben wir nicht.
Doch die Cliffhanger, die Scheherazade einbaute, gibt es hier nicht. Es beginnen immer wieder neue Traumsequenzen, die sich jeder Logik entziehen. Größtenteils zu Opernarien entfaltet sich auf der Bühne eine Dramatik, in der es um existenzielle Fragen geht. Da wird gekotzt, sein Geschäft in Eimer verrichtet, menstruiert oder mit viel Blut verschmierte Bettwäsche gewechselt, die gleich danach wieder rote Flecken aufweist. Dazu geben die drei Männer an den Trommeln den Rhythmus vor.
Das ist alles befremdlich, verwirrend, irritierend und anstrengend. Nirgendwo ist eine Lösung in Sicht. Die Choreographin Freitas schickt ihre Performer in einen Alptraum, in dem sie als Insassen gehalten werden und aus dem es keinen Ausweg gibt. Nur selten gibt es kleine Momente, die eine Ahnung von Losgelösheit erlauben. Das geschieht ausgerechnet dann, wenn die beinlose Tänzerin auf der Bühne ihre verknotete Kostümverlängerung wie eine Marionette tanzen lässt. Oder wenn zum Schluss der Nick-Cave-Klassiker "The Mercy Seat" mit der Zeile „An eye for an eye, and a tooth for a tooth“ von allen interpretiert wird. Mehr Erlösung gibt es nicht, in einer Welt, in der die Ungerechtigkeit, der Eigennutz und die Gewalt immer mehr die Führung zu übernehmen scheint. Tanz gibt es allerdings bei diesem Stück wenig. Was Freitas hier mit ihrem ausdrucksstarken Ensemble zeigt, ist mehr Bewegungstheater mit klarem politischen Impetus. Das löste beim Berliner Publikum einige Verwunderung, wenig Ablehnung und viel Begeisterung aus. So war von Verlassen weniger des Saales bis Standing Ovations vieler alles dabei. Entweder man erliegt dem Sog der absurden Todesgeschichten von Freitas oder man sucht bis zum Schluss verzweifelt und unbefriedigt nach einem roten Faden.
Birgit Schmalmack vom 15.8.25
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