Sie sagt. Er sagt, Kammerspiele

Sie sagt. Er sagt, Kammerspiele
Foto: Bo Lahola
Auf der Suche nach der Wahrheit
Vergewaltigungsmythen sind Vorurteile, die widerlegt worden sind, aber dennoch in der Gesellschaft ihre Runden machen und die Vorstellung des “richtigen Opfers” weiter manifestieren: Wie Frau sich verhalten sollte, bestimmen immer noch unsere Sichtweise auf die Aussagen in solchen Fällen.
Das Stück heißt zwar „Sie sagt, er sagt“, doch er (Dirk Hoener) sagt die ersten 1,5 Stunden erst einmal gar nichts. Er sitzt stumm da, hört fast regungslos zu und überlässt seiner Anwältin das Reden. Nur die Klägerin (Andrea Lüdke) wird aussagen und sich dem Kreuzverhör vor dem Richterpult stellen müssen.
Die Hierarchieverhältnisse sind von vorneherein klar auf dieser Bühne. Der Richter (Pierre Sanoussi-Bliss) thront weit über allen anderen. Die Geschädigte und der Angeklagte dürfen weit unter ihm auf einfachen Stühlen Platz nehmen. Doch zuvor trat der Richter als Privatperson nur im Oberhemd vor das Mikro und stellte klar: „Es gibt keine Wahrheit um jeden Preis. Die Strafprozessordnung ist es, die uns vor dem voreiligen Griff nach Wahrheit schützt.“
An diesen Platz am Mikro wird er im Folgenden alle Aussagenden bitten. Ihr Gesicht wird jeweils in Großaufnahme auf die Rückwand projiziert. So entgeht dem Publikum keine noch so kleine Zuckung des Minenspiels. Denn auch die Zuschauenden sind stetig auf der Suche nach der Wahrheit. Wer wird hier lügen? Wer wird hier die Wahrheit sprechen? Aussage wird zum Schluss gegen Aussage stehen. Im Zweifel für den Angeklagten? Dem widerspricht der Anwalt der Klägerin ganz entschieden. Nur wenn es berechtigte Zweifel geben würde, gelte dieser Satz. Aber nicht, wenn Aussage gegen Aussage stünde.
Doch in diesem Fall geht es um eine vermeintliche (wie die Verteidigerin des Angeklagten immer wieder betont) Straftat, bei der naturgemäß nur die Beteiligten anwesend waren. Es geht um eine Vergewaltigung im ganz privaten Rahmen eines Schlafzimmers. Die beiden kannten sich seit vier Jahren, hatten eine Affäre, die beendet wurde, trafen sich zufällig wieder und landeten in der Wohnung des Angeklagten. Erst im Bett erkannte die Frau, dass sie keinen Sex wollte und versuchte ihn zu beenden, doch der Mann machte bis zu seiner Befriedigung weiter. Seitdem kann sie ihren Beruf nicht mehr ausüben und ihre Familie ist zerbrochen. Soweit ihre Darstellung. Die Anhörung von Sachverständigen, Gutachterinnen, Kriminalbeamtinnen stützen mal die Glaubwürdigkeit der Klägerin und mal die Zweifel der Gegenseite. Erst als der Richter kurz vor Ende der Klägerin und dem Angeklagten die Möglichkeit zu abschließenden Bemerkungen gibt, entschließt sich der Mann das Wort zu ergreifen. Seine Version ist eine ganz andere. Plötzlich steht direkt Aussage gegen Aussage. Doch warum hat ihn seine Verteidigerin noch kurz zuvor versucht, von diesem Schritt abzuhalten? Die schwierige Suche nach der Wahrheit wird nicht einfacher, auch nicht, als vor dem endgültigen Ende des Stückes eine weitere überraschende Wendung eintritt. So ist für Diskussionsbedarf auch nach dem begeisterten Schlussapplaus für das anregende Stück gesorgt. Dank der psychologisch genauen, sachlichen und von wenig künstlerischen Einfällen gestörten Inszenierung, bei der sich Regisseur Axel Schneider ganz auf Ferdinand von Schirachs Theatervorlage verlässt, werden die Zuschauer:innen sich auf ihr eigenes Urteilsvermögen verlassen müssen.
Birgit Schmalmack vom 22.9.25
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