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Eines langen Tages Reise in die Nacht , DT

Eines langen Tages Reise in die Nacht, DT

Foto: Thomas Aurin

Wir trinken doch alle


Die beruhigenden Klänge von Bachs „Air“ täuschen Ausgeglichenheit und Harmonie vor. Doch der eiserne Vorhang führt dazu seinen eigenen Tanz auf. Er geht ein Stückchen auf, ruckelt kurz und fährt wieder runter. Die Inspizientin (Julia Gräfner) tritt aus der Tür. Technische Problem, aber sie seien dran. Zum Glück sind die tragenden Personen des Stückes, das eigentlich gegeben werden soll, aus einer Schauspielerfamilie. Sie haben sich im Zuschauerraum verteilt und - ebenso pompös rot gekleidet wie der Raum des Deutschen Theaters - und beginnen mit ihren Dialogen scheinbar improvisiert mitten zwischen den Zuschauer:innen. Es ist eine Familie, deren Mitglieder einander unauflöslich in Hass und Liebe verbunden sind. Ihre Gefühle, Abhängigkeiten, Wünsche, Verletzungen, Vorwürfe Heilungserwartungen, Eingeständnisse und Schuldzuweisungen drehen sich in einem scheinbar ewigen Kreislauf.
Doch Vater Tyron (Bernd Moss), der nicht umsonst in der ersten Reihe sitzt, fühlt sich als ausgebildeter Selbstdarsteller, der wahrscheinlich auch in seinen Shakespeare-Rollen immer nur ein Bild von sich selbst spielte, ganz in seinem Element. Er weiß mit dem Publikum zu spielen, versichert sich mit spontanen Umfragen immer wieder seines Zuspruchs. „Wer fühlt sich von seinen Kindern enttäuscht?“ „Wessen erwachsene Kinder wohnen immer noch zu Hause?“ Er sonnt sich in dem abgeholten Zuspruch, selbst wenn er nicht immer zahlreich ist.
Vom zweiten Rang rechts keift sein älterer Sohn („thankless child“ steht auf seinem T-Shirt unter dem Glitzerjackaett) Jamie Junior (Moritz Kienemann) zurück, im ersten Rang versucht sein jüngerer Sohn Eddie (Svenja Liesau) sich auf sein Buch zu konzentrieren und vom zweiten Rang links sendet seine Frau Mary (Almut Zilcher) abwechselnd Zeichen der Beschwichtigung oder der Verunsicherung herunter. Schnell werden die Hintergründe der einzelnen Mitglieder klar: Mary ist gerade aus einer Morphium-Entziehungskur zurückgekehrt, James Junior ertränkt seine Erfolglosigkeit in Zynismus und Alkohol, der ebenfalls alkoholabhängige Eddie ist ernsthaft erkrankt und der Vater kann seinen Lebensüberdruss nur mit einem noch größerem Whiskeyflaschenvorrat ertragen.
Da der eiserne Vorhang sich einstweilen immer noch weigert, sich zu erheben, schleppt die Inspizientin die wichtigen Requisiten einfach auf das schmalen Bühnenpodest davor: zahllose Flaschen mit Whiskey, der allerdings die Farbe von Wodka bzw. Wasser hat. So wechseln die Vier, nun in verwaschener und aus Stoffresten zusammengesetzter Alltagskleidung zu ihrem Allheilmittel. Sie schütten sich den Alkohol gleich flaschenweise in den Hals. Wenn Eddie nicht mehr kann, hilft der Vater nach. Für Nachschub wird stets gesorgt.
Als der eiserne Vorhang ein Einsehen hat und sich endlich hebt, ist allerdings nicht das von der Inspizientin zuvor versprochene Sommerhaus zu sehen, sondern nur neblige Leere. Wie schwer zu greifenden Alptraumfiguren aus einem Film von David Lynch tauchen hasenköpfige Figuren aus dem Nebel auf und verschwinden wieder, während sich die Mutter in einem Lamento-Monolog ergießt. Während sie darüber räsoniert, ob sie sich nie hätte auf ihren Mann einlassen, nie ein zweites, durch „ihre Schuld verstorbenes" Kind und erst recht nie ein drittes Kind zur Kompensation des Verlustes bekommen sollen. Doch gerade wenn sie völlig in ihrer depressiven Lage zu versinken droht, versucht sie immer wieder, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Natürlich erfolglos. Zweckoptimismus hilft hier wenig. Dafür sorgen schon die übrigen Familienmitglieder. Denn alle sind so mit ihren eigenen Traumata belegt, dass sie keinerlei Kapazitäten für Unterstützung der Anderen übrig haben. Schon für sie alleine reicht ihre Kraft nicht aus. So müssen alle Hilfeersuche ständig enttäuscht werden. Dennoch bleiben sie aneinander gekettet, da es niemanden anderes gibt, der ihre Verletzungen wieder heilen könnte als diejenigen, die sie ihnen zugefügt haben. Sie befinden sich in einem schmerzlichen Teufelskreis der Verzweiflung, am meisten an sich selbst und durch eine Projektionsabwehr auch an den übrigen, die sie gleichzeitig lieben und hassen. Aus diesem Gefängnis der wechselseitigen Schuldzuweisungen gibt es kein Entrinnen. Das zeigt die nächste Bühnenkonstellation.
Plötzlich hat sich das Sommerhaus materialisiert, doch es bietet keinen Rückzug mehr, denn die Fenster sind mit Sperrholz vernagelt. Die Alptraumfiguren versuchen es zu erobern, indem sie die Veranda besetzen, aufs Dach steigen oder an die Fenster klopfen. Doch vergeblich. Kurz vor Ende wird rund um das Haus noch Stacheldraht ausgelegt. Verbarrikadieren sich die Tyrons jetzt komplett gegen die Außenwelt oder ist Ihnen selbst der Zugang zu ihrem einstigen, als Zuhause gedachten Haus versperrt worden? Das bleibt auch nach dem Epilog weitgehend offen.
Regisseur Sebastian Nübling hat nämlich dem Stück von Eugene O’Neill einen Text von Sivan Ben Yishai hinzugefügt., den sie anlässlich eines Vortrags im Rahmen von „DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN“ am 24. August 2024 beim Kunstfest Weimar gehalten hat. Er scheint zunächst keinerlei Zusammenhang mit dem Stück um diese zerrüttete Familie zu haben. Doch je länger Julia Gräfner ihn vor dem eisernen Vorhang an das Publikum richtet, desto mehr Verknüpfungen ergeben sich auf wundersame Weise. „Wir bleiben" ist die Überschrift über diesem Text. Auch die Vier hinter dem eisernen Vorhang werden bleiben. Genauso wie diejenigen, die Yishai in ihrem Essay vor Augen hatte: Diejenigen die durch den zunehmenden Rechtsruck auch in Deutschland drohen ausgeschlossen, fortgeschickt, abgeschoben oder exkludiert zu werden. Doch sie werden bleiben. Sie würden sich einfach noch mehr anstrengen und noch weniger anstrengend sein. Sie würden ihre Leistungsfähigkeit noch weiter erhöhen und gleichzeitig weniger laut und auffällig werden. Sie werden bleiben, denn welche Alternativen hätten sie schon?
So versucht Nübling mit diesem Schlussteil dem Stück eine gesellschaftskritische Metaebene zu geben. So wie diese Vier auf der Bühne beinander bleiben werden, obwohl ihre Verständigung nie gelingen wird, so werden auch die Vielen in Deutschland bleiben, obwohl auch für sie die Aussichten eher trübe sind. Sie werden sich halt noch mehr bemühen und sich noch mehr zurückziehen.
Auf einmal fiel es schwer, die innerliche Distanzierung aufrecht zu erhalten. Worüber könnte man sich nun noch erheben? Fast zwei Stunden hatte man vier Menschen zugeschaut, die so erfolglos wie verzweifelt ihr Leben versuchen zu meistern. Doch genauso hilflos scheinen wir auch im politischen Leben zu sein, unsere Probleme anzugehen. Zugegeben, dass ist ein etwas gewollter Bezug, den Nübling hier versucht herzustellen, aber dennoch kann man sich zum Schluss dieser ungewöhnlichen Inszenierung des Bühnen-Klassikers nicht dem übermächtigen Gefühl der Verzweiflung entziehen, die man zuvor nur auf die Familie Tyron projiziert hatte. Trinken wir nicht alle? Verdrängen und hoffen wir nicht alle? Dass es falscher Alarm ist, dass es schon nicht so schlimm kommen wird, wie Yishai in ihrem Text sagt? Und hängt das eine nicht mit dem anderen zusammen?
Birgit Schmalmack vom 24.4.25

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