Gittersee, BE

Gittersee, BE
© Moritz Haase
Etwas Großes kommt immer ganz plötzlich
Die Bühne überspannt eine durchsichtige Decke, von der lauter weiße Streifen herunterhängen. So ist ein Wald aus lauter Papierfahnen entstanden. Unschuldig weiß sehen sie aus und dennoch können sich Menschen und Ereignisse darin verstecken. Mittendrin steht die sechszehnjährige Karin. Sie weiß nie, wer sich hinter ihr anschleicht, was sie als nächstes erwartet.
Zu Beginn sah man nur Schattenrisse hinter der weißen Stoffwand. „Auf ins Abenteuer“ riefen sie. „Komm mit. Zur Sonnenwendfeier nach Tschechien.“ Doch Karin hatte keine Zeit, wie so oft musste sie mit der Oma das Haus hüten und auf ihre kleine Schwester aufpassen, während ihre Eltern mal wieder auf Arbeit waren.
Sie hat noch die letzten Worte ihres Freundes Paul im Ohr. „Vergiss nie, ich liebe dich.“ Doch Paul kam nicht mehr aus Tschechien zurück. „Republikflucht“ hörte man. Karin hatte nichts geahnt. Von ihrer Mutter (Kathleen Morgeneyer) kommen nur Vorwürfe, ihr Vater ist nicht greifbar, ihre burschikose Oma (Rahel Ohm) hält ihr nur irgendwas Geerntetes zum Schälen hin und ihre Freundin Marie (Irina Sulaver) hat auf einmal eine Partnerin. Da kommt der Stasimann (Paul Herwig), der den Fall Paul aufklären soll, genau zum richtigen Zeitpunkt. Er gewinnt ihr Vertrauen und sie unterschreibt. Endlich jemand, der zuhört. Als Karin schließlich merkt, auf wen sie sich hier eingelassen hat und welche Konsequenzen ihr Reden mit ihm hat, ist es schon zu spät. Marie darf kein Abitur machen, ihre Tante wird verhaftet und Pauls Freund droht Gefängnis.
Diese Coming-of-Age-Geschichte, die noch zu DDR-Zeiten in dem Dresdener Vorort Gittersee spielt, stellt Karin in den Mittelpunkt. Doch zunächst steht sie nur da und schweigt zu allen Fragen. Zu denen ihrer bohrenden Mutter, zu denen ihrer pragmatischen Oma, zu denen von Pauls Freund, zu denen vom Stasimann. Beobachtend, nachdenkend, verunsichert versucht sie sich auf alles ihren Reim zu machen. Die Erwachsenen um sie herum sind keine Hilfe, sie scheinen ebensowenig zu verstehen wie sie selbst. Nur der alles wissende Stasimann scheint einen Plan zu haben und sich wirklich für sie zu interessieren.
Wie er sich langsam ihr Vertrauen erschleicht und die nachdenkliche Karin ihm tatsächlich auf den Leim geht, ist so nachvollziehbar und einfühlsam von der jungen Regisseurin Leonie Rebentisch in Szene gesetzt, dass man als Zuschauende nur Verständnis für ihr Verhalten entwickeln kann. Wider besseres Wissen mag man es in keinem Moment für moralisch fragwürdig halten, denn sie verhält sich getreu ihres Erkenntnisstandes völlig logisch. Sie versucht die Erwartungen der Umwelt zu erfüllen und scheitert doch ständig. Weder denen ihrer Mutter, ihrer Oma noch denen von Marie kann sie gerecht werden. Erst recht, was deren Frage nach ihren eigenen Wüschen angeht. Die sind purer Luxus für sie, den sie sich nicht erlauben kann. Einzig die Freundschaft zu Marie gibt ihr zunächst noch etwas Halt, doch als diese mit ihrer Partnerin nach Berlin abziehen will, ist auch dieser für Karin verloren.
Ihre Welt schnurrt auf einen minimalen Bewegungsspielraum zusammen. Die Plexiglasdecke senkt sich so weit, dass Karin von ihr auf den Boden gedrückt wird. Als sie sich wieder aufrichten kann, hat sie einen Entschluss gefasst. Der erste, den sie ganz selbstbestimmt getroffen hat. Sie hat ihre Unschuld und Kindheit verloren, sie ist erwachsen geworden. Das überraschende Ende zeigt: Jetzt trifft sie ihre eigenen Entscheidungen und geht voll ins Risiko.
Rebentisch ist eine intelligente Umsetzung des Romans von Charlotte Gneuß gelungen. Sie lebt von der grandiosen Verkörperung der Karin durch Amelie Willberg, die ihre Rolle genau an der Nahtstelle zwischen Verwunderung, Verunsicherung, Verletzung, Aufbegehren und Selbstbestimmung ansiedelt. Eine beeindruckende Leistung, die das Verstehen ihrer Haltung ohne Vorverurteilungen ermöglicht.
Birgit Schmalmack vom 21.4.25
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