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geRecht II, tak

geREcht, tak

Tammo Walter

Wenn ich eine Ameise wäre


Für die Richterin (Corinna Harfouch) ist das Lebenskonzept der Ameisen ein Vorbild an Ordnung, Uneigennützigkeit und Gemeinschaft. Ab und zu wünscht sie sich selbst Teil eines solchen Systems zu sein, um der Verantwortung zu entgehen, die sie in ihrem Beruf verspürt. Dabei zeigt sie im Gericht eine Entschlossenheit, die nichts von ihren Selbstzweifeln erkennen lässt. Wann immer sie von Kollegen, Vorgesetzten oder Journalisten gefragt wird, demonstriert sie die Gewissheit, nur dem Gesetz zu folgen und stets das Richtige entschieden zu haben. Dabei weiß sie genau um die Entscheidungsspielräume, die die Rechtsprechung erlaubt. Besonders deutlich wird das im Asylstrafrecht.

In der zweiten Episode von geRecht, die jetzt am tak uraufgeführt wurde, werden diese Dilemmata anhand von zwei Fällen und drei Frauenschicksalen durchgespielt. Die positive Entscheidung von Richterin Baumann zum ersten Fall liegt schon schriftlich vor, da geht über die Nachrichtenticker eine Eilmeldung: Der Asylbewerber soll einen terroristischen Anschlag verübt haben. Die Gerichtsleitung und die Presseabteilung sind in heller Aufregung. Noch offen ist die Entscheidung zum zweiten Fall, den ein Kollege von ihr zu treffen hat. Er ist scheinbar ganz ähnlich gelagert. Eine Iranerin ist aus Afghanistan nach Deutschland geflohen. Gegen die Ablehnung ihres Asylantrags hat sie nun Klage eingereicht. Entgegen dem Ratschlag ihres erfahrenen Anwalts will sie keine vereinfache, entsprechend der Paragraphen geglättete Geschichte vortragen, sondern die Wahrheit erzählen. Sie lehnt es ab, ein Opfer zu sein. Als sie merkt, dass der Richter mit der Zumutung der Wahrheit überfordert ist, greift sie seiner Entscheidung vor: Sie stellt einen Antrag auf freiwillige Ausreise nach Afghanistan. Ihre Dolmetscherin ist beeindruckt: Eine starke Frau!

Baumann erkennt sich in der Frau wieder. Ihre Flucht aus der DDR liegt vierzig Jahre zurück. Sie erfährt, dass ihre Freundin, mit der sie eigentlich zusammen fliehen wollte, die aber im letzten Moment einen Rückzieher machte, gestorben ist. Ihre Tochter, die sich bei den Freien Sachsen engagiert, gibt ihr eine Mitschuld an ihrem Tod. Zum Schluss stehen die drei Frauen auf den mittleren Leinwänden nebeneinander: Die afghanische Iranerin, Richterin Baumann und die junge Frau aus Sachsen. Drei Frauen, die durch ihr Leben und ihre Geschichte geprägt ihre Entscheidungen treffen. Sie wollten ihren Lebensort selbst wählen, doch nicht jeder von ihnen war eine Wahl erlaubt.

Baumann erkennt, dass sie leider keine Ameise ist. Sie kann nicht auf ausgetretenen Pfaden einfach an ihre Vorgänger anschließen. Sie gesteht sich ein: Sie sei aus einem verkrusteten System geflohen und jetzt soll sie wieder in einem verkrusteten System gelandet sein? Sie wählt die Telefonnummer des Journalisten und willigt ein, mit ihm über das Recht, die Gerechtigkeit und die Menschenwürde zu sprechen. Auf den zahlreichen Monitoren, die zu einer Installation auf der rechten Seite der Bühne arrangiert sind, ist sie live auf den Bildschirmen zu sehen. Ein gerechtes Rechtssystem sei ein Mythos, gesteht sie dem Journalisten ein. Es gebe bei allen Entscheidungen einen Spielraum, den jeder der Rechtssprechenden anders ausloten würde. Der eigene Erfahrungshintergrund bilde die Folie, durch die die jeweilige Person die Fälle betrachten würde.

Der Fokus des transnationalen Autor:innenteams – Mehdi Moradpour, Matin Soofipour Omam, Peca Stefan – liegt nicht auf den Fluchtgeschichten, sondern auf der großen Verantwortung der Justizexpert:innen. Nach ihrer Inszenierung des ersten Teils, der zunächst aufgrund der Corona-Auflagen als begehbare Filminstallation zwischen sechs Leinwänden realisiert wurde, haben sie diese innovative, intensive und effektive Art der Umsetzung auch für den zweiten Teil beibehalten. So war die Beteiligung von vielgebuchten Schauspielerinnen wie Corinna Harfouch möglich. Perfekt ineinander geschnitten agieren die Darstellenden auf den Leinwänden, die im Raum verteilt sind so, als wenn sie sich tatsächlich begegnen würden. Da die Zuschauenden sich frei im Raum bewegen können, sind die ständigen Änderungen des Blickwinkels auf das Geschehen Teil des Konzepts. Während im ersten Teil das Gerichtsgebäude, in dem alles spielt, noch als real gefilmte Kulisse zu sehen war, ist sie jetzt nur noch eine animierte Oberfläche, die sich nach und nach in ihre Bestandteile zerlegt. Zum Schluss ist nur noch ein Trümmerhaufen aus Säulen, Wand- und Deckenteile übrig.

Durch die lebensgroßen Filmaufnahmen kommen die Figuren den Zusehenden sehr nahe. Harfouch beeindruckt in ihrem feinsinnigen Spiel, das genau an der Nahtstelle zwischen professioneller Selbstsicherheit und privaten Selbstzweifeln balanciert. Bis sie in der Talkshow beide Haltungen verbindet und der Öffentlichkeit die Schwierigkeiten bei der Entscheidungsfindung erklärt. Spätestens die Konfrontation mit der jungen Frau in Sachsen, die ihr die Schuld an dem Verlust ihrer Heimat unterstellt, hat ihr gezeigt, dass mehr Transparenz nötig ist. Nicht ohne Konsequenzen, wie der Nachspann andeutet.

Wie im ersten Teil schafft es auch der zweite, die große Verantwortung, die den Rechtsprechenden im Justizsystem zukommt, nachfühlbar werden zu lassen. Genau ihr Handlungsspielraum gibt ihnen die Möglichkeit menschlich zu handeln und eröffnet aber auf der anderen Seite auch den Raum für sehr subjektive, nicht vergleichbare Entscheidungen. Wie wird sich denn der dringliche Vorschlag der Pressereferentin auswirken, den sie von der Politik durchreicht, viel schneller in den Entscheidungen zu werden und sich dabei in der Kammer auf gemeinsame Richtlinien festzulegen?
Birgit Schmalmack vom 5.5.25

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