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Jugend ohne Gott, DT

Jugend ohne Gott, DT

Foto: Jasmin Schuller

Ohne Basis

Als Gruppe stehen sie da. Als austauschbare Wesen. Als ein Volk. In ihre Ansprache mischt sich zunächst kein Zweifel. Voller Überzeugung adressieren sie ihre Rede als Chor. Doch kaum endet sie, werden sie zu bunten Vögeln, die nervös mit ihren Hälsen zucken und wie aufgeschreckt auf der Bühne herumlaufen.

Das ist schon ein starkes Bild, mit dem die Inszenierung „Jugend ohne Gott“ vom Emel Aydoğdumit dem DT Jung* startet. In den ersten zwei Dritteln wird die Handlung des Romans von Ödön von Horváthnacherzählt. Die rosa-lilanen Vogelwesen mit ihren Federjacken, kurzen Lederhosen und schwarzem Augen-Make-Up, das dramatisch über ihre Wangen heruntergelaufen ist, schlüpfen in alle Rollen, die dafür gebraucht werden.

In den dreißiger Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg lässt ein Lehrer seine Klasse einen Aufsatz über den Sinn von Kolonien schreiben. Als er ihn zurückgibt, verzichtet er auf inhaltliche Kommentare. Nur bei einem Schüler kann er sich eine Bemerkung zu seiner Meinung, dass Ausländer keine Menschen seien, nicht verkneifen. Das hat Konsequenzen: Der Vater des Jungen beschwert sich bei der Schulaufsicht über ihn und die Klasse will einen neuen Lehrer. Der Direktor schickt ihn daraufhin als Aufsichtsperson mit der Klasse in ein Lager, das der militärischen Grundausbildung dienen soll.

Im Roman spitzt sich dort die Lage zu, als ein Fotoapparat gestohlen wird und die Fahndung nach dem Dieb beginnt. Doch genau hier bricht im DT die Handlung ab. Die Jugendlichen auf der Bühne fordern lautstark ein Innehalten und Nachdenken ein. Sie entledigen sich ihrer bunten, voluminösen Jacken, wischen ihr Make-Up ab und streifen eine nach dem anderen ihre ganz individuelle Kleidung über, die ihrer Diversität Ausdruck verleihen. Mit Rock, Wickelanzug zu Ohrringen, dicke Boots zu kurzen Shorts, Unterhemd mit Nickituch, enger Weste zu Streifenhose, bauchfreiem Top stylt man sich ganz nach Geschmack. Plötzlich werden unterschiedliche Charaktere offensichtlich, die sich nun fragen, was eine Demokratie noch wert sei, wenn der Rechtsruck allmählich unübersehbar werde, wenn rassistische Angriffe, Diskriminierung von marginalisierten Gruppen und Zuspruch für populistische Parteien immer mehr werden. Leben sie in einer Gesellschaft ohne eine wertebasierte Grundlage, sind sie tatsächlich eine Jugend ohne Gott, wie die Erwachsenen im Roman ihnen vorwerfen? Sie beginnen sich und das Publikum zu fragen, welche Überzeugungen ihnen Halt geben, welche Wünsche sie für ihre Zukunft haben und wo sie Widerstand leisten könnten. Für diesen Teil hat die Regisseurin mit ihren Darstellenden mehrere Berliner Klassen besucht und nach ihren Wünschen und Utopien gefragt. Ihre Äußerungen sind in diesen Teil, der das letzte Drittel füllt, eingeflossen.

Dazu stehen sie locker im Kreis auf der Bühne, setzen sich auf das rollbare Rondell, legen sich auf die herbeigeholten Kissen oder steigen die Treppenstufen bis ins Publikum hoch. Sie werden bis zum Schluss des Abends in ihrer Gegenwart bleiben und nicht wieder in die Geschichte um den Lehrer und die Klasse zurückkehren.

Im Roman wird es an dieser Abbruchstelle jedoch gerade spannend. Denn nicht nur der Lehrer sondern auch einzelne Schüler offenbaren danach ihre bisher gut unter der Oberfläche verborgenen eigenen Ansichten. Erschienen sie bis dahin als eine ununterscheidbare Masse, die sich in der gängigen, von der Obrigkeit und der Propaganda ausgegebenen Meinung, unauffällig eingerichtet hatten, zeigen sich danach zunächst kleine Risse, später persönliche Überzeugungen. Die Einteilung in moralisch und unmoralisch, die die Handlung bis zu diesem Punkt anbietet, werden Stück für Stück hinterfragt. Statt Schwarz-Weiß sind nun alle Arten der Grauabstufung sichtbar. Doch genau diesen Teil des Romans lässt Aydoğdu weg. Sie vertraut damit weniger den Theatermitteln auf der Bühne als vielmehr den direkten Äußerungen der jungen Berliner:innen. Die Reaktion aus dem jungen Publikum gibt ihr recht: Sie holt die jugendlichen Zuschauer:innen genau dort ab, wo sie sich selbst verorten. Sie transferiert damit die gleichförmige Gesellschaft, die im ersten Teil gezeigt wird, in die super diverse Berliner Stadtgesellschaft, die sich in den Schulen, Unis und Clubs trifft. Diese hat eine Utopie, wie es weitergehen könnte. Mit einer Kommunikation auf Augenhöhe, die sie hier schon einmal auf der Bühne einüben und präsentieren.

Die Schattierungen des Romans, die im weiteren Verlauf deutlich werden, werden in dieser Umsetzung direkt in die Berliner Gegenwart gebeamt. Sie brauchen dem Umweg über die Geschichte nicht mehr, zumindest fast. Denn an einer Stelle versuchen sie daran zu erinnern, dass es auch ein paar wenige Widerständler unter den Nazis gab. Sie nennen aber nur kurz ihre Namen und hängen Fotos von ihnen auf. Die Antwort auf die Frage, was sie zu ihrem Widerstand befähigt hat, wird nur angedeutet. Die meisten von ihnen waren Teil einer Gruppe, die ihnen Kraft gab. Solidarität und Community scheinen also hilfreich zu sein, eigentlich genau wie in Horváths Roman. Dort gibt es einen „Klub“ aus Schüler:innen, mit dessen Unterstützung der Lehrer zum Schluss selbst den Weg in die Ehrlichkeit, für die Gerechtigkeit und gegen das Wegducken findet.

So wagt diese Inszenierung einen Spagat zwischen einer Romanadaption mit dezidiert künstlerischen Bühnenmittelnund selbstvergewissernden Dokutheater mit biographischen Elementen. Es ist den jungen Schauspieler:innen auf der Bühne zu verdanken, dass sie es mit ihrer Überzeugungskraft und Spielfreude schaffen, die Aufmerksamkeit bis zum Ende gespannt zu halten. Für die etwas älteren Zuschauer:innen wäre allerdings auch ein dritter Teil denkbar gewesen, in dem die bunten Vögel wieder zur Romanhandlung zurückgeschwenkt wären. So konnte man den Eindruck haben, dass die Ausgangslage des Romans lediglich als provokativer Aufhänger benutzt wurde, ohne das dessen eigene Vielschichtigkeit der Perspektiven berücksichtigt worden wäre. Doch beweist sich nicht erst dann die Resilienz einer Gesellschaft, wenn es um die Umsetzung der Ideale geht?

Birgit Schmalmack vom 24.4.25

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