Gegengift, Neuköllner Oper

Gegengift, Neuköllner Oper
Peter van Heesen
Doch nicht so einfach
Auftritt der Held:innen. Die Sechs haben Großes vor. Sie sollen die Stadt vor den Gefahren des Moores bewahren, das mit seiner Ausbreitung die Stadt bedroht. Die sechs jungen Leute haben also eine Mission. Jede:r von ihnen eine eigene. Sie fühlen sich wahlweise als Ritter, als Auserwählte, als von den Sternen Bestimmte, als Gottesopfer, als Teamplayer oder als wandelndes Lexikon. Die Expedition ins unbekannte Terrain beginnt. Es wird wohlmöglich eine Reise ohne Wiederkehr.
Ihre Opfer- und Risikobereitschaft wird auf eine harte Probe gestellt. Sie begegnen allerlei merkwürdigen, mystischen Gestalten im Moor. Nicht nur dass die Pilze, auf die sie treffen, sprechen können, sondern auch das „köpfende Bauchgefühl“, das „spielsüchtige Orakel“ und die selbstgenügsame „Mutter Natur“ werden sie vor Herausforderungen stellen, mit denen sie nicht gerechnet haben. Ihre theoretischen Überlegungen treffen auf eine Praxis, die sich einfachen Lösungen in den Weg stellt. Als die verkopfte Eleni auf das expressive Bauchgefühl trifft, versteht sie schnell: Das Gift, das die Stadt zerstört, sind wir selbst. Der selbsternannte Ritter meint, in den Pilzen selbst das gesuchte Gegengift gefunden zu haben. Der Teamplayer will die Botschaft der sprechenden Pilze verstanden haben: Das Gegengift liegt in der Bereitschaft zu Transformation, das die Pilze in Perfektion praktizieren. Die Naturschützerin dagegen hat überhaupt kein Interesse daran, ein Gegengift zu finden. Sie weiß schon jetzt, was passieren muss: Die Menschen müssen verschwinden, dann kann die Mutter Natur, die sie verehrt, gerettet werden. Wie groß wird ihre Enttäuschung sein, als sie erfahren muss, dass Mutter Natur kein Interesse an ihrer Opferbereitschaft zeigt. Das Überleben der Natur brauche die Menschen nicht.
So sind die Erkenntnisse, die diese Reise für die jungen Held:innen bereithält, zahlreich und dennoch ist eine Lösung am Ende genauso weit entfernt wie zuvor. Das Team aus dem Komponisten Yuval, der Autorin Vera Schindler und Regisseur Bjørn de Wildthat hat mit ihrem Musical „Gegengift“ an der Neukölln Oper eine Kooperation mit Wissenschaftlern der TU, der MITKUNSTZE NTRALE und dem PILZ KUNST LABOR gewagt, die versucht die Prinzipien von Pilznetzwerken in eine Musiktheatersprache zu übersetzen. Passend zum Thema hat Halpern einen Mix verschiedener Musikstile zusammengefügt. Da mischen sich Pop, Reggae, Rap, Musical mit Opernelementen. Zum Teil ergänzen sie sich zu einem harmonischen, zum Teil aber auch zu einem irritierenden Ganzen, dass das Verstehen der Einzelteile erschwert. Das ist natürlich gewollt. Denn schließlich scheitern die Jugendlichen trotz ihrer Unbedingtheit, mit der sie auf die Suche nach der einen Lösung losziehen, an dem Unterfangen, die empfangenen Botschaften zu verstehen. Jeder scheint etwas Anderes zu hören und zu entschlüsseln. Jeder ist geprägt von seinen Vorerfahrungen und Erwartungen, die die Folie für sein Verständnis bildet. Die eigene Perspektive bestimmt das Ergebnis.
Die Ernsthaftigkeit ihrer Mission wird durch ihre häufigen Selbstkommentare unterbrochen, die immer einen Ausstieg aus ihrer Rolle bewirken. Diese lockere Selbstironisierung erlaubt eine Verbindungsaufnahme zum Publikum und mildert wohltuend den Botschaftsanspruch an das große Thema einer Weltrettung ab.
Denn so märchenhaft das „Gegengift“ auch zum Teil in seinen Stilmitteln auf der Bühne daherkommt und wie esoterisch anmutend auch mancher Lösungsansatz klingen mag, klugerweise erlaubt sich das Team keine einfachen, eindeutigen Lösungen. Im Scheitern läge eine Hoffnung, so versuchen sie sich zum Schluss in Zweckoptimismus. So enden? Hatten sie am Anfang nicht vollmundig einen hoffnungsvollen Abend in düsteren Zeiten versprochen? Spontaner Vorschlag aus dem jugendlichen Team: Lass uns wenigstens mit Musik und Tanz enden! Also wird die ernüchternde Botschaft des Schlusses noch einmal gesungen und mit einer Choreographie verschönt. Doch vor dem letzten Wort brechen sie einfach ab. Das Wort Hoffnung kommt ihnen nicht mehr über die Lippen. Ist das jetzt wirklich das Ende? Erst nach der Aufforderung von der Bühne traut sich das Publikum zu klatschen.
Birgit Schmalmack vom 30.4.25
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