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Kiezstürmer 2025, St. Pauli Theater

Höchstes Niveau


Das Buch der Bücher? Welches könnte das sein? Für das bieder zurechtgemachte Ehepaar in Anzug, Blümchenkleid zu Perlenkette ist es klar die Bibel. Für den Jorgen in T-Shirt und Laminatweste selbstverständlich der IKEA-Katalog. Und für die drei Herren in ihren schwarzen Anzügen und den Quadrathüten kommt dafür nur das Telefonbuch für Hamburg in Frage. Wie sich nun alle Vertreter:innen ihrer jeweiliges Buches zwischen den drei verschiebbaren Raumecken mit insgesamt sechs Türen die Show streitig machen, ist ein Hochgenuss der Theaterkunst. Die drei Regisseur:innen, die dafür verantwortlich sind, behaupten zwar, sie hätten sich in Vorbereitung auf diese gemeinsame Inszenierung nie getroffen und nur ihren jeweiligen Part alleine inszeniert, aber das ist natürlich fake. Das hätte ihnen auch keiner geglaubt, denn die Szenen sind so kunstvoll ineinander geschnitten, die Übergänge so perfekt aufeinander abgestimmt, dass die sorgfältige Arbeit sofort zu erkennen ist. Nichtsdestotrotz sind auch schon die jeweiligen drei Einzelteile Kunstwerke in sich. Die Bewegungschoreographie lotet genau den Zwischenraum zwischen ernsthafter Begeisterung der jeweiligen Befürworter ihrer Bücherwahl und zarter Ironisierung durch das Zusammentreffen mit den anderen aus. Ein Übriges tut der Musiker Johannes Rieder, der zwar am Rand sitzt, aber dennoch manchmal ins Geschehen eingreift, und zwar nicht nur durch seine live gespielte Musikbegleitung sondern auch durch seine eingestreuten Kommentare. Zu jeder Szene gestalten die jeweiligen Vertreter:innen ihre Raumecke um. Dann wird schnell ein Kreuz aufgehängt, das in der nächsten Szene sofort durch ein altmodisches Tastentelefon mit Ablagefach ersetzt wird (der Akkuschrauber ist stets zur Hand) oder durch ein IKEA-Möbel komplettiert wird. Wenn das Bibelehepaar bei dem Auszug aus Ägypten angekommen ist, wird das Publikum kurzerhand zum Roten Meer, das zuerst hin- und herschwappen, dann aufstehen und sich in der Mitte teilen muss, damit Moses mit seinem Volk hindurchschreiten kann. Als Jorgen seine innige Beziehung zu dem Kinderstuhl Glan, der ihn seit 25 Jahren begleitet, beschreibt, oder als er zu einer Stehlampe mutiert, dann hat das Witz und Seele zugleich. Die drei Telefonbuchherren finden in ihrem Buch der Bücher zu allen Lebenslagen die richtigen Nummern. Denn ob „Kummer“, „Gott“ oder „Glück“, alles lässt sich auf ihren 514 Seiten finden.

Nach zwei Stunden reinsten Theatervergnügens gipfelt der Spaß in einem Gospelchor, der mit dem Publikum zusammen „Wir sind alle Kinder Gottes“ anstimmt. Doch unter den wallenden Talaren zeigen sich bald Teufelsmasken und das Ganze droht aus dem Ruder zu laufen, bis Johannes mit „Freeze“ und der Ankündigung einer Pause dem Treiben ein Ende setzt. Nach dieser treffen wir alle Mitwirkenden bei einem Probenachgespräch wieder. Es seien Vorschläge für ein mögliches Ende gefragt, das dem Regieteam nicht eingefallen sei, wie es freimütig zugibt. Also machen die Mitwirkenden Vorschläge: Am überzeugendsten das eines Telefonbuchvertreters. Er blättert die hauchdünnen Seiten zweier Telefonbücher ineinander und beweist mit diesem Experiment, dass die Reibung der gut 500 Seiten, die dabei entsteht, so stark ist, dass keiner die beiden Bücher wieder trennen könne. Genau so gilt es auch für diese Arbeit der drei Ts, Tamara Sonja Aijamathiesen, Till Doğan Ertener und Tristan Linder. Aus der Reibung zwischen den drei Büchern und den drei Regisseur:innen ist ein herausragender Abend entstanden. Doch das hätte man auch schon ohne die letzte Viertelstunde nach der Pause gewusst.

Was sollte jetzt noch kommen, auf dem kleinen Kiezstürmer-Festival im St. Pauli-Theater? Zur folgenden Inszenierung OTTOSOTTOSOTTOSMOPS von Jungregisseurin Juno Peter waren die Reihen zwar etwas gelichtet, aber das Bleiben sollte sich lohnen. Was Peter mit ihrem exzellenten Cast (Aaron Brömmelhaup, Lea Mergell, Seraphina Schweiger) aus dem Gedicht von Ernst Jandl Ottos Mops machte, war so kreativ und voller Überraschungsmomente, dass keinen Moment Langeweile aufkam. Das lag auch daran, dass sie das Gedicht in die lange Beziehungsgeschichte zwischen Frederike Mayröcker und Jandl einbettete. Die beiden Poet:innen waren so unterschiedlich und blieben dennoch bis zum früheren Ende Jandls, 21 Jahre vor Mayröckers Tod, zusammen. Vor dem comichaften, orangenen, verschiebbaren Fernsehbildschirm, auf den immer wieder Filmeinspielungen und Fotografien aus den Archiven eingeblendet wurden, performten die drei Schauspieler:innen mit ausdrucksstarken Bewegungschoreographien immer neue Interpretationen des Gedichtes. Dazu trugen Mayröcker und Jandl in ihrem biederen rosa Kostüm bzw. dunklen Anzug gerne auch riesige Stoffköpfe mit einer heraushängenden Zunge bzw. mit einem gelichteten Haarkranz, um zu Mops und Otto zu werden. Auch wenn zwischendrin der eine oder der andere stets betonte, dass dies alles Fiktion sei, lieferten die Schwarz-Weiß-Aufnahmen dazu als einen interessanten Contrapart einen Eindruck der Realität. Wie die Souffleuse im Laufe des Stücks zu einer Mitspielerin in dem Gedicht wurde, geschah scheinbar intuitiv und spontan. Peters bewahrte geschickt die Balance zwischen Informationen, Poesie, Spekulation und Fiktion. Denn wie die Souffleuse zum Schluss - wieder ganz in ihrer Beobachterinnenrolle - bemerkte: „Sie haben ihr Geheimnis bewahrt.“ Denn: „Keiner hat die Einsamkeit des Anderen angetastet.“

Birgit Schmalmack vom 15.4.25

Das Buch der Bücher, ST. Pauli Theater

Tamara Sonja Aijamathiesen, Till Dogan Ertener, Tristan Linder

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