Ellen Barbic, Kammerspiele

Ellen Barbic, Kammerspiele
Foto Bo Lahola
Alles Lüge?
Am Ende des Abends ist Klara (Marie Fey) überzeugt: Etwas ist zerbrochen, etwas ist zu Ende. Zu viele Lügen haben sich in ihrer Beziehung zu Astrid (Katja Studt) offenbart. Sie nimmt ihre Tasche und geht.
Denn Lügen haben ihre Beziehung von Anfang an begleitet. Klara kann sie ohne Nachzudenken abspulen. Nein, sie hat ihre Freundin, mit der sie jetzt eine Wohnung teilt, nicht auf dem Gymnasium kennengelernt. Nein, sie hatte keine Beziehung mit ihr, so lange sie noch auf der Schule war. Nein, sie hat den Anfang gemacht, nicht ihre damalige Lehrerin. Doch als sie nun erfährt, dass ihre Freundin die ganze Zeit von ihrem Direktor (Till Demtrøder) bedrängt und unter Druck gesetzt wurde, ohne dass sie davon wusste, zieht es ihr den Boden unter den Füßen weg. Wenigstens zwischen ihnen soll es kein Geheimnis geben. Doch wenn Lüge und Verstecken die Welt um sie herum bestimmen, wie kann dann ihr Privatleben davon un-infiziert bleiben?
Das ist nur eine der vielen Fragen, die im Laufe der Aufführung von „Ellen Barbic“ an den Kammerspieler aufpoppen. Eine andere ist Machtmissbrauch. Die Vorurteile, die über die lesbische Lehrerin Astrid an ihrer Schule kursieren, nutzt ihr Chef Wolfram, die sich in sie verliebt hat, aus, um sie angeblich zu schützen, doch in Wirklichkeit unter Druck zu setzen. Anscheinend gibt es einen neuerlichen Anlass dazu: Es gibt eine Beschwerde eines Vaters, dass Astrid sich einer Schülerin auf einer Klassenfahrt genähert haben soll. Wolfram will eine Aussprache, eine Erklärung, ein Angebot… Ja, was eigentlich? Das bleibt bis zum Ende hin unklar. Autor Marius von Mayenburg versteht es geschickt die Fakten in der Schwebe zu halten. Auch was wirklich passiert ist, hängt von der Sichtweise jedes Zuschauenden ab. Nur die Abgründe, die sich durch dieses Lügen- und Manipulationsgespinst auftun, die sind Fakten, hinter die keiner wieder zurückkann.
Wie Regisseur Sewan Latchinian das mit seinem Ensemble auf der Bühne umsetzt, ist ein großes Kommunikationsverhinderungsspiel. Das Reden dient hier nicht der Verständigung, sondern der Verschleierung. So lange bis alle Wahrheiten, auch die, die man bewahren wollte, im Nebel der Lügen nicht mehr zu erkennen sind. Auf dieser Grundlage hat die Wahrheit kaum eine Chance. Hier gedeihen die Unterdrückungsmechanismen hervorragend. Wenn die Lüge von außen in die private Sphäre der Wohnung hineinwabert, breitet sie sich auch hier in der großen schicken Altbauwohnung aus. Ein hochspannendes psychologisch fein gesetztes, intelligentes Kammerspiel, das vom Team an den Kammerspielen sensibel umgesetzt wurde. Zum Glück ohne die Stellen, die das Publikum zu unfreiwilligen Lachern anstiften, auszuweiden und in die Ecke der Übertreibung zu drängen. So behalten alle Charaktere auf der Bühne ihre Würde und erlauben ein Einfühlen in ihre ganz persönlichen Wahrheiten bzw. Lügengebäude. Jede einzelne von ihnen erscheint glaubwürdig und nachvollziehbar, doch im Aufeinandertreffen offenbart sich die Unvereinbarkeit ihrer Narrative. Wo alles von Lüge und Manipulation durchzogen ist, kann keine gemeinsame Wahrheit entstehen.
Birgit Schmalmack vom 24.05.25
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